Samstags, wenn Krieg ist
ein.
„Mit den Kerlen darf man kein Mitleid haben. Die muss man ausrotten. Die sind schädlich wie AIDS. Die schwächen das Immunsystem unseren Volks.“
Als Wolfi endlich abließ von dem Kerl, da hatte Renate Tränen in den Augen.
Warum schießt mir das ausgerechnet jetzt durch den Kopf? Ich will doch schlafen, verdammt!
In der Kirche soll morgen eine Messe für Renate gelesen werden, oder wie der Scheiß heißt. Die sollten sie lieber endlich mal beerdigen.
Er setzt die Weinflasche ein letztes Mal an. Leer. Schon wieder.
Noch einmal geht er in den Keller. Er wackelt ein bisschen. Im Flur sieht er sich im Spiegel. Er bleibt stehen, stützt sich auf den Schuhschrank und bringt sein Gesicht so nah an den Spiegel, dass er die talgigen Poren an seinen Nasenflügeln sehen kann.
Er lacht. Sieht sich beim Lachen zu und erkennt die Traurigkeit in seinen Augen. So sehen Filmhelden aus, die scheitern.
Er versucht, sich selbst in die Augen zu sehen. Er hält seinem eigenen Blick nicht lange stand. Dann streckt er sich selbst die Zunge heraus. Bäh! Altes Arschloch.
Sein Gesicht kommt ihm fremd vor. Als gehöre es nicht wirklich ihm. Wie eine Fälschung. Recht ähnlich, aber bei genauem Hinsehen Pfusch. So wie sich das Ölbild mühelos von der Fotografie auf der Postkarte unterscheidet.
Siggi fällt ein, dass er noch nie ein echtes Ölgemälde gesehen hat. Immer nur Kopien. Er war noch nie im Leben in einem Museum, und was die Eltern im Wohnzimmer an die Wand gehängt haben, ist nur eine gerahmte Fotografie. Oder? Plötzlich ist er sich nicht mehr sicher.
Er schaltet im Wohnzimmer das Licht an. Über dem Sofa das Landschaftsbild mit dem klaren Bach, dem kleinen Wasserfall.
Er geht hin und fährt mit der Hand über das Bild. Es ist glatt.
Siggi weiß noch genau, wie es an die Wand kam. Vorher stand es ein paar Tage in Geschenkpapier verpackt im Werkzeugkeller. Siggi und Yogi waren mit, das Bild aussuchen. Den beiden gefiel es nicht. Yogi wollte lieber eine Stereoanlage für Mama kaufen, weil seine kaputt war, und Siggi, der Kleine, log seinem Vater vor, wie gut ihm das Bild gefalle, denn er ahnte, dass Papi sich darüber freuen würde.
Er tat oft das, wovon er glaubte, es würde von ihm erwartet. Er wünschte sich sogar zu Weihnachten das, wovon er meinte, seine Eltern fänden den Wunsch gut. Er versuchte, liebenswert zu sein, ein netter Junge.
An dem Tag, als Yogi den Unfall hatte, da kam es ihm vor, als sei er sich selbst verlorengegangen. Er weinte nicht, weil er traurig war. Er weinte, weil er wusste, dass es von ihm erwartet wurde. Die Traurigkeit kam viel später.
Manchmal, jetzt zum Beispiel, dann spürt er genau, dass er gar nicht weint, lacht, wütend ist. Er tut nur als ob. Er spielt traurig sein. Er heuchelt Interesse.
Wie lange hatte er seinen Eltern noch vorgemacht, an das Christkind zu glauben, weil er befürchtete, sie könnten es nicht ertragen, wenn er die Wahrheit wüsste. Ihnen zuliebe stellte er sich blöde, nicht um mehr Geschenke zu bekommen. Nein, darauf spekulierte er nicht.
Plötzlich steht ihm gespenstergleich seine Mutter gegenüber. Er braucht eine Sekunde, um zu realisieren, dass sie keine Erscheinung aus seiner Kindheit ist. Keine Erinnerung, sondern Jetzt erleben.
Sie tupft sich mit einem Stofftaschentuch die Nase und die Tränensäcke unter den Augen ab. „Was machst du?“, fragt sie.
Er zuckt mit den Schultern. „Nichts.“
Sie beantwortet ihre Frage selbst. „Du kannst nicht schlafen. Ich liege auch jede Nacht wach. Dein Vater weint neben mir ins Kissen. Ich habe den Mann noch nie weinen sehen. Es ist, als wollte er nie mehr aufhören.“
Sie dreht sich um und geht.
Er folgt ihr. Dazu ist keine Aufforderung nötig. Es ist ein unbewusstes Signal. Ihre Mir-nach-Drehung, die ihn magisch dazu bringt, hinter ihr herzulaufen. Vielleicht ist es ihr Gang, oder ihr Art, die Schultern zu bewegen. Siggi weiß nicht, wie sie es macht. Doch er spürt, es gibt etwas – außerhalb von Worten, damit dirigiert diese Frau ihn.
Er folgt ihr in die Küche wie eine Marionette. Ohne sich nach ihm umzudrehen, weiß sie, dass er hinter ihr steht. Sie nimmt es einfach selbstverständlich an.
„Ich mache uns einen Schlaf- und Beruhigungstee.“
Sie setzt Wasser auf und hängt drei Teebeutel in die alte Kanne mit den chinesischen Drachen darauf, die er als Kind so schön unheimlich fand und heute nur noch kitschig. Er sagt nichts, steht einfach nur neben ihr und sieht ihr beim Teekochen
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