Samtpfoten im Schnee
nicht, wie ich ohne ihn weiterleben soll.«
»Schscht, schscht, Liebes.« Irene hielt sie fest umschlun-gen, und auch in ihren Augen und in ihrer Stimme waren Tränen. »Es ist so unendlich schwer für dich, aber du musst versuchen, dich zusammenzunehmen.«
Und Meghan hatte es versucht.
Gott wusste, wie sehr sie es versucht hatte. Wochenlang war sie wie jemand durch das Leben gegangen, der bis ins Innerste erstarrt war. Stunde um Stunde hatte sie in Stephens Zimmer verbracht, hatte den Duft seiner Kleider ein-geatmet, hatte sein Spielzeug in den Händen gehalten, hatte versucht, seine Gegenwart zu spüren. Ja, sie betrauerte auch Burtons Tod, aber es war Stephen, nach dem ihr Herz sich verzehrte und nach dem ihre Arme sich sehnten.
Nachdem es einige Wochen lang so gegangen war, hatte sich Meghan dazu gezwungen, sich eine Aufgabe zu suchen.
Sie hatte ihre unverheiratete Cousine Eleanor eingeladen, bei ihr zu wohnen. Darüber hinaus begann sie, in »Besse-rungsanstalten« und wohltätigen Institutionen mitzuarbeiten. Sorgsam mied sie aber jene, die mit Kindern zu tun hatten.
Sie vermisste Stephen schmerzlich. Sie vermisste es, Mutter zu sein, denn das hatte ihrem Leben in den vergangenen Jahren Sinn gegeben. Sie vermisste es, Ehefrau zu sein, auch wenn der Schmerz über die Untreue ihres Mannes und ihre Isolation die Erinnerungen daran beherrschten. Ihre Wut und ihr Kummer konzentrierten sich weitgehend auf das,
»was hätte sein können, wenn ...«. Sie hatte es letztendlich geschafft, Burtons Charakter zu akzeptieren, indem sie erkannte, dass er kein »schlechter Mensch« gewesen war, sondern einfach nur ein schwacher Mann mit wenig Sinn für Anstand und Ehre. Und er war fast zehn Jahre lang Teil ihres Lebens gewesen ...
Lord Justin würde also auch als Gast auf Everleigh sein.
Sie gab ihm nicht mehr die Schuld an dem, was geschehen war. Dennoch blieb die Tatsache, dass Burton öfter zu Hause geblieben wäre, hätte Wingate ihn nicht dazu verlei-tet, an dieser und jener Unternehmung teilzunehmen. Wie oft hatte sie von ihrem Mann gehört »Justin sagt...« oder
»Justin hat mich eingeladen ...« oder »Justin hat vor...?« Sie war fast so weit gewesen, in Wingate so etwas wie einen weiteren Rivalen im Kampf um die Zuneigung ihres Mannes zu sehen.
Natürlich war Meghan den Wingates bei verschiedenen Soireen und Gesellschaften begegnet. Meghan hatte erkannt, dass Belinda sich ihres gesellschaftlichen Ansehens sehr bewusst gewesen war. Schließlich war sie mit einem Marquis verheiratet. Belindas Ehemann dagegen schien -
paradoxerweise - in diesem Punkt zurückhaltender und gelassener zu sein als seine Frau. Meghan war zu der Ansicht gelangt, dass die beiden nicht besonders gut zueinander passten, und äußerte dies ihrem Mann gegenüber.
Burton hatte nur mit den Schultern gezuckt. »Das ist kein Geheimnis. Sie sind einander schon in der Wiege versprochen worden, mehr oder weniger jedenfalls. Und sie ist eine Hamlin. Die Wingates und die Hamlins scheinen immer untereinander zu heiraten.«
»Aber Irene und ihr Mann, der Marquis, haben aus Liebe geheiratet. Ich weiß, dass es so war.«
»Kann schon sein.« Burtons gelangweilter Ton schien die Frage auszudrücken, warum man sich darüber den Kopf zer-brechen sollte.
Im Stillen jedoch machte sich Meghan von Zeit zu Zeit Gedanken über Justin und Belinda Wingate. Belinda - hoch gewachsen, blond und selbstsicher - erschien in der Öffent-lichkeit oft in anderer Begleitung als der ihres Mannes, mal sah man sie mit einem Cousin oder ihrer Schwester oder einem anderen Familienmitglied. Aber schließlich hielten es viele Ehefrauen der besseren Gesellschaft so. Und nach dem Maß der Zeit zu urteilen, die Burton mit seinen Freunden verbrachte, vermutete Meghan, dass Wingate ebenfalls oft von zu Hause abwesend war. Belinda und Justin schienen eine Ehe zu führen, die ihrer eigenen wohl nicht unähnlich war.
Überdies schien Lord Justin an der Gesellschaft anderer Frauen ebenso Vergnügen zu finden, wie es bei Burton der Fall gewesen war. Die Frauen fanden beide Männer attraktiv.
Kenwick, blond und gut aussehend und mit überlegen wir-kendem Auftreten, brachte leicht zu beeindruckende Frauen dazu, ihn zu umschwärmen. Wingates große schlanke Gestalt, das dunkelbraune Haar, die tiefblauen Augen und sein freundliches Auftreten machten ihn zu einem Liebling der Gesellschaft.
Nach Belindas Tod hatte Meghan ein sehr formelles Bei-leidsschreiben an den Witwer gerichtet,
Weitere Kostenlose Bücher