Samtpfoten im Schnee
hatte er sich so hilflos gefühlt.
Absichtlich lenkte er seine Gedanken auf die Weihnachtsgesellschaft der Everleighs. Er freute sich darauf, einige alte Bekanntschaften zu erneuern. Auch die mit Meghan Kenwick?, fragte er sich spöttisch. Nun, die mit Mrs. Kenwick vermutlich nicht - schon gar nicht, wenn sie noch immer dazu neigte, ihn für den Unfall verantwortlich zu machen.
Justin kannte Meghan Kenwick nicht besonders gut. Er konnte sich erinnern, ein- oder zweimal auf einem Ball mit ihr getanzt zu haben. Ihm hatte gefallen, wie es sich angefühlt hatte, sie in den Armen zu halten, und ihre Unterhaltung über irgendein soziales Thema war anregend gewesen.
Es war eine Schande, dass eine so attraktive Frau mit einem so negativen Charakter behaftet war. Sie war keine hinrei-
ßende Schönheit im klassischen Sinne, aber dennoch hatte die kleine Mrs. Kenwick etwas überaus Bezauberndes an sich. Zudem verrieten ihre klaren grauen Augen ihre Intelligenz. Und wenn sie lächelte, was sie nur selten tat, verwan-delte sich ihre ganze Erscheinung in einem geradezu verwir-rendem Maße.
Offensichtlich hatte sie mit Dummköpfen nur wenig Geduld. Dennoch hatte sie sich dafür entschieden, einen zu heiraten. Nun, vielleicht nicht gerade einen Dummkopf, aber ganz gewiss einen Burschen mit wenig eigenen Ideen und wenig Entschlusskraft, wenn er auch ein ganz passabler Kamerad gewesen war. Vielleicht gehörte sie einfach zu diesen despotischen Frauen, denen es gefiel, die Dinge nach ihrem Willen zu lenken. Kenwick hatte sich oft genug über die Ansprüche beklagt, die seine Frau stellte. Justin hatte es missfallen, dass der Mann diese Klagen über seine Frau so öffentlich zur Sprache gebracht hatte. Seine Versuche, Kenwick davon abzubringen, waren jedoch erfolglos verlaufen.
Nach den Worten ihres Ehemannes war Mrs. Kenwick niemals zufrieden zu stellen gewesen. Sie setzte ihn herab, ignorierte ihn und missachtete seine Entscheidungen in Bezug auf den Sohn. Sie würde ihn bedrängen, so hatte Kenwick sich beklagt, wissenschaftliche Abhandlungen über die soziale Lage von Kaminkehrern oder Derartiges zu lesen und politische und literarische Zirkel zu besuchen. Kenwick la-mentierte über die Tatsache, dass die reizende Debütantin, die er geheiratet hatte, »sich zu einer Art Blaustrumpf ge-wandelt hatte«.
An eine Ehefrau gebunden, deren Interessen sich mit denen ihres Mannes so wenig deckten, war es vielleicht auch verständlich, dass ein Bursche wie Kenwick sich anderswo Verständnis gesucht hatte.
Bitterkalt war es geworden, als Meghan nach Everleigh reis-te. In ihrem Zimmer im Gasthaus, in dem sie ihre Reise unterbrochen hatte, hatte sie des Morgens eine dünne Eis-schicht auf dem Wasser ihrer Waschschüssel vorgefunden.
Sie war froh, dass während der Reise nur diese eine Übernachtung erforderlich gewesen war. Eingewickelt in einen mit weißem Pelz besetzten Kapuzenumhang, trat sie jetzt aus der Tür des Gasthauses. Die Luft klirrte vom Frost, und sie bemerkte die Atemwölkchen, die jedem vor dem Mund standen, sobald man diesen auftat, um etwas zu sagen.
»Es ist schrecklich kalt, Ma'am.« Ihr Kutscher trat einen Schritt zurück, als der Diener Meghan und deren Zofe in das Gefährt half. »Wir haben die Steine wieder heiß gemacht, und es sollte für Euch und Betsy warm genug in der Kutsche sein.«
Das würde es wohl, denn als die Kutschentür geöffnet wurde, spürte Meghan die Wärme, die die auf dem strohbe-deckten Boden liegenden Steine ausstrahlten.
»Danke, Mr. Hawkins.«
»Wenigstens werden wir bei dieser Kälte ganz gut voran-kommen«, sagte der leutselige Kutscher. »Schlamm wäre das Schlimmste, was die Fahrt langsam machen könnte. Aber die Straßen werden frühestens gegen Mittag schlammig werden. Bis dahin sollten wir eigentlich am Ziel sein.«
»Gut. Ihr und Tony achtet darauf, Euch warm einzupa-cken.«
Die Weiterfahrt verlief ereignislos, und der Tag war zu trüb, als dass die vorbeiziehende Landschaft allzu viel zur Kurzweil hätte beitragen können. Betsy, sie saß ihrer Herrin gegenüber, döste vor sich hin, und so war Meghan mit ihren Gedanken und Erinnerungen allein. Sie rief sich die Bemerkung ins Gedächtnis, die Eleanor über den liebenswürdigen Gentleman gemacht hatte, dem Meghan womöglich auf Everleigh begegnen würde. Sie seufzte leise. Wenn Eleanor wüsste ...
Burton Kenwick war die Verkörperung eines »liebenswürdigen Gentlemans« schlechthin gewesen, als er ihr den Hof gemacht
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