Samtschwarz - Page, S: Samtschwarz
tun, als sei sie eine Viscountess.
Eine Stunde später, nachdem das Mädchen ihr das Frühstück gebracht und beim Ankleiden geholfen hatte, traf Maryanne Mrs. Long im Morgensalon, jenem Zimmer, in dem die frühere Viscountess, Dashs Mutter, sich um ihre morgendlichen Aufgaben gekümmert hatte. Nachdem sie einem Diener aufgetragen hatte, die Haushälterin zu ihr zu schicken, strich Maryanne nervös mit den Fingerspitzen über das weiße Schreibpult mit den vergoldeten Verzierungen, auf dem zahlreiche blütenweiße Blätter bereitlagen, die darauf warteten, von ihr mit Listen und Notizen beschrieben zu werden.
Dash musste noch ein Kind gewesen sein, als seine Eltern starben. Marcus hatte einmal erwähnt – kurz nachdem sie Dash auf einem der wenigen Bälle, die er besucht hatte, begegnet waren –, dass seine Eltern gleichzeitig gestorben waren.
Bei einem Unfall mit der Kutsche.
Sie schlug sich die Hand vor den Mund. Wie hatte sie das nur vergessen können! Kein Wunder, dass er so entsetzt ausgesehen hatte, als sich der Unfall auf der Great North Road ereignet hatte.
Was war sie nur für eine schreckliche Ehefrau! Sie wünschte sich aus tiefstem Herzen, dass sie wenigstens Freunde sein konnten. Oder höflich zueinander, wenn es denn für eine Freundschaft nicht reichte. Aber ein Freund hätte seinen Schmerz verstanden und ihn mit ihm geteilt.
„Mylady?“
Als sie hinter sich die Stimme der Haushälterin hörte, fuhr Maryanne herum. In ihrem schlichten grauen Kleid, das allerdings sehr gut geschnitten war, sank Mrs. Long in einen tiefen Knicks, und Maryanne stolperte fast über den eleganten Stuhl vor dem Schreibtisch.
Hilflos suchte sie nach Worten. „Womit sollen wir anfangen?“
Vielleicht war es falsch, zuzugeben, dass sie es nicht wusste. Doch Mrs. Long nickte, während sie die Hände vor ihrem Körper ineinanderlegte. „Ich würde mich freuen, wenn ich Ihnen das Haus zeigen dürfte, Mylady. Und dann sind noch die Speisefolgen für die einzelnen Wochentage zu besprechen. Außerdem glaube ich, dass es gut wäre, wenn wir Vorkehrungen für die Ankunft der Gäste träfen.“
Gäste? Venetia, Marcus, ihr Baby und ihre Mutter und Grace würden kommen, aber erst am Tag vor Weihnachten.
„Der Südflügel wurde bereits für Lord und Lady Moredon hergerichtet. Lady Yardley wird in ihren gewohnten Zimmern wohnen. Den Lavendelzimmern.“
Warum hatte Dash ihr nicht gesagt, dass seine Schwester zu Besuch kommen würde? Oh, sie war nicht darauf vorbereitet, seine Familie kennenzulernen. Noch nicht. Seine Schwester würde sofort die Gründe für ihre Hochzeit begreifen. Ein eisiger Schauer lief Maryanne über den Rücken, und sie zitterte vor Angst. Und Lady Yardley – würde Ihre Ladyschaft sie nach ihrer kurzen Begegnung im Hyde Park wiedererkennen?
Maryanne nahm den Lunch allein ein. Sie spielte mit dem Stiel ihres Weinglases und schaute sich im Zimmer um. Die großen Fenster gingen auf den Garten hinaus, und zwischen diesen Fenstern hingen Landschaftsgemälde. Um den Tisch standen zwanzig Stühle, obwohl dies nur das private Speisezimmer für die Familie war.
Gab es hier irgendwelche Hinweise auf Dash? Veränderungen, die er persönlich in seinem Haus vorgenommen hatte?
Eine Servierplatte nach der anderen wurde ihr gereicht. Sie dachte an Maidenswode, wo eine der kleineren Platten mit Schinken eine Woche lang für den ganzen Haushalt ausgereicht hätte. Hier sah man kaum, dass sie etwas von dem Roastbeef, dem Fisch mit Dillsauce und dem Brot genommen hatte.
Wo war Dash? Würde er später noch zu ihr kommen?
Als die Diener eintraten, um den Tisch abzuräumen, schlüpfte Maryanne stumm aus dem Zimmer. Sie hatte mit Mrs. Long vereinbart, dass sie nach dem Essen die Mahlzeiten für die nächsten Tage besprechen würden. Als könnte sie unbemerkt durch die Flure gehen, wenn sie sich schmal und klein machte, umschlang Maryanne ihren Oberkörper mit den Armen. Sie kam sich verloren vor und war verwirrt.
Plötzlich bemerkte sie, wie schlecht sie sich in ihrem neuen Zuhause auskannte. Wo führte dieser Gang hin?
Von Weitem hörte sie laute Geräusche. Dann das Klappern von Schritten auf dem Fußboden der Eingangshalle. Offenbar waren die Gäste angekommen.
Darauf war sie nicht vorbereitet. Sie hatte gehofft, Dash würde an ihrer Seite sein!
Wenn man sie nirgends im Haus fand, würde sie seine Schwester nicht begrüßen müssen. Noch nicht.
Sie konnte in die Kinderzimmer in der oberen Etage gehen und so
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