Samuel Carver 01 - Target
gelegen hatte. Langsam steuerte Faulkner durch die schmale Rinne zwischen den schaukelnden Rümpfen und Masten der anderen Jachten hindurch, die an den tausend Liegeplätzen in Cherbourgs Jachthafen vertäut waren, dem größten an der französischen Küste. Nach wenigen Minuten erreichten sie das relativ offene Gewässer der Binnenreede.
Faulkner zeigte zum Ufer zurück. »Seht ihr die Stelle da drüben, neben der großen Fähre? Das ist der Kai der Ozeanriesen. Da hatte die Titanic festgemacht, bevor sie zu ihrer Begegnung mit dem Eisberg auslief.« Er gab Gas und brachte den Motor auf volle Leistung, als sie an der runden Festung vorbei in die Außenreede fuhren. Beide Häfen waren von einem enormen Damm umgeben, an dessen Öffnung eine Burg die Einfahrt in den Kanal bewachte.
»An die Arbeit, Leute«, sagte Faulkner. »Zeit, die Segel zu setzen.«
Bald zeichneten sich die zwei großen weißen Dreiecke des Groß- und des Stagsegels gegen den dunklen Himmel ab, und ein paar Augenblicke lang erlebte Carver die herrliche Freiheit einer Jacht, die vom Wind geneigt aufs offene Meer hinaus segelt. Faulkner schaltete den Motor ab, sodass man nur noch das Flattern der Segel, das leise Knarren der Taue und das Rauschen von Wind und Wellen hörte. Am nördlichen Horizont zogen sich dunkle Wolken zusammen. Carver tippte Faulkner auf die Schulter und zeigte dorthin. »Die sehen nicht besonders freundlich aus.«
»Eine arktische Kaltfront«, erklärte Faulkner. »Die wird in den nächsten zwei, drei Stunden auf uns zukommen. Im Moment haben wir Westwind, Stärke vier. Er wird nach Norden drehen und auf fünf oder sechs, vielleicht zuweilen auf Stärke sieben auffrischen. Ein bisschen stürmisch, aber keine Sorge, die Rustler schafft das, und die Gezeiten sind für uns günstig. Allerdings ist Regen angesagt; es wird also nicht allzu angenehm. Ich habe zwei zusätzliche Regenanzüge unter dem Bett in der Bugkabine verstaut. Die könnt ihr benutzen. Ihr könnt sie ebenso gut jetzt anziehen, solange ihr noch die Möglichkeit dazu habt.«
Carver ging unter Deck. Er durchquerte die enge Hauptkabine, quetschte sich an der Kombüse und einer Essecke vorbei, bis er zu einer Tür kam. Dahinter befand sich ein noch engerer Raum, der die dreieckige Form des Bugs hatte und hauptsächlich von einer Schlafstelle eingenommen wurde.
Die Matratze war an der Seitenwand festgemacht und hochgeklappt, um den Stauraum darunter freizugeben. Carver kramte darin herum, bis er zwei orangerote Regenhosen mit den passenden Jacken gefunden hatte. Die Jacken konnten einen Orkan abhalten. Der Kragen ließ sich bis zum Kinn schließen und die Ärmel mit einem Klettriegel zuziehen.
Während er sich den Reißverschluss zuzog, dachte er an die anderen beiden: wie sehr das augenscheinlich lässige, sogar amateurhafte Auftreten, das sie an den Tag legten, ihre enormen Reserven an Mut, Können und nötigenfalls auch Rücksichtslosigkeit verbargen. Er dachte an die vielen Male, wo sie Anweisungen gegeben, entgegengenommen und weitergesagt hatten, an die Präzision, die man ihnen dabei antrainiert hatte. Sie alle kannten die verheerende Wirkung, die das geringste Missverständnis in Kriegszeiten auslösen konnte. Carver ging in Gedanken noch einmal alles Gesagte durch und wusste, dass er verraten worden war.
Er fragte sich, ob seine alten Kameraden gemeinsame Sache machten. Einer zumindest war jetzt sein Feind, so viel war klar. Der andere mochte bloß ein ahnungsloser Dummkopf sein. Und das bedeutete? Dass er dumm war, aber nicht unschuldig. Ein Puzzlestück, das ihn unbewusst beschäftigt hatte, war an seinen Platz gelangt, und so hatte sich ein Bild ergeben. Es war ein Porträt seiner selbst, aber kein schmeichelhaftes. Es zeigte einen Mann, der getäuscht worden war, nicht einmal, sondern wiederholt, einen Mann, der einer Hand voll Menschen sein Vertrauen gewährt und jedes Mal die Falschen gewählt hatte. An einem der nächsten Tage, falls er so lange lebte, wollte er sich noch einmal alles ins Gedächtnis rufen und feststellen, nicht wo – das wusste er jetzt –, sondern warum er sich geirrt hatte. Diese Männer waren seine Freunde gewesen, seine Waffenbrüder. Sie waren einmal bereit gewesen, für ihn ihr Leben zu riskieren. Was hatte er seitdem getan, dass sie ihn jetzt verraten wollten? Vielleicht hatte er gar nichts dazu tun müssen. Seine Mutter hatte ihn schließlich weggegeben, nur weil er auf der Welt war.
Er war damit fertiggeworden. Er
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