Samuel Carver 01 - Target
Baum des Großsegels fuhr übers Deck und über Carvers Kopf hinweg. Das Stagsegel wurde an den Mast gedrückt. Der Wind stieß es hinüber zur Backbordseite. Doch es wurde von einem strammen Seil in seiner Position an Steuerbord gehalten.
Mit jedem Augenblick änderte die Tamarisk weiter ihren Kurs. Sie drehte sich gegen den Uhrzeigersinn im Wasser, brachte drei Viertel des Ziffernblatts hinter sich, bis sie nicht mehr längs zu dem Containerschiff fuhr, sondern direkt auf den schwarz gestrichenen Koloss zuhielt. Und dann brach die Drehung ab, und die Tamarisk lag still im Wasser.
Der Abstand betrug nur noch fünfzig Meter. Während die Tamarisk ihren Kurswechsel vollzogen hatte, hatte Carver hastig das Tau des Stagsegels bedient und sich gegen den Zug gestemmt, den der Wind bewirkte.
Das Tau löste sich, und das Stagsegel flatterte hilflos im Wind.
Das Boot würde sich nicht mehr bewegen, ehe Carver die Prozedur umkehrte. Er hatte höchstens noch fünf Sekunden bis zum Zusammenstoß. Er schoss nach Backbord an die Winde und kurbelte wie wild, um das Tau zu spannen und das Stagsegel um den Mast zu ziehen bis zu dem Punkt, wo es den Wind wieder einfing, der die Tamarisk antreiben würde.
Die Adventurer war jetzt so nahe, dass Carver nicht einmal mehr das obere Ende des Rumpfes sehen konnte, der doppelt so hoch wie der Mast der Jacht war. Jede Sekunde brachte das Schiff zehn Meter näher heran. Jetzt war keine Zeit mehr übrig, um noch etwas zu tun. Und dann fing das Stagsegel einen Windstoß ein, füllte sich einen Moment lang und gab der Tamarisk einen kleinen Schubs, nicht mehr als ein, zwei Meter Bewegung, aber gerade genug, um sie weiter herumzudrehen.
Jetzt spürte Carver, wie sie von einer viel mächtigeren Kraft erfasst wurde. Unterhalb der Wasserlinie des Containerschiffs wölbte sich am Bug ein großer Wulst hervor wie der Kopf eines Wals. Er war dazu gedacht, das Wasser vom Schiff wegzudrängen und das Kielwasser zu minimieren. Das funktionierte so effektiv, dass die Adventurer wie die meisten modernen Großschiffe weniger Kielwasser erzeugte als ein zwölf Meter langer Kabinenkreuzer.
Stattdessen strömte das Wasser als große rollende Dünung zur Seite weg, erfasste die Tamarisk , trug sie hoch und von dem Containerschiff fort. Jetzt war Carver erst einmal im Lee der Adventurer , die zwischen ihn und den Wind einen Stahlklotz von der Höhe eines Kirchturms und der Länge einer Dorfstraße schob. Es war, als segele man ins Auge eines Wirbelsturms. Die Luft stand still. Die Segel bewegten sich schlaff. Wieder war Carver vollkommen hilflos, und die Jacht schaukelte auf dem Wasser wie eine Gummiente beim Baden. Links von ihm zog der Rumpf des Containerschiffs zehn, zwanzig, dreißig Sekunden lang vorbei, als nehme es den ganzen Ozean ein und hätte kein Ende.
Plötzlich packte die Strömung der Bugwelle noch einmal zu, verlief zum Schiffsrumpf zurück und nahm die Tamarisk mit. Dabei drehte die Jacht direkt auf die Schiffswand zu, die immer näher kam, bis Carver fast mit ausgestrecktem Arm den kalten, nassen Stahl berühren konnte.
Dann machte die Strömung einen neuerlichen Schwenk, warf die Jacht aufs offene Meer, und das Containerschiff war vorbei. Fünfzig Meter weiter konnte Carver die großen Buchstaben lesen, in denen der Name auf dem Heck prangte wie ein bombastischer Abschiedsgruß. Die beiden Worte wurden allmählich kleiner und unschärfer, bis das Schiff von Dunkelheit und Regen verschluckt wurde. Von der Leuchtrakete war nichts mehr zu sehen. Es gab keinerlei Hinweis darauf, wo der tote Trench treiben mochte.
Carver erwog kurz, nach ihm zu suchen, doch Wind, Wellen und Strömung würden die verstümmelte Leiche längst weggetragen haben. Er hatte keine Suchscheinwerfer, um damit übers Wasser zu streichen, und keinen Motor, der die Jacht hierhin und dorthin bringen würde. Er würde Stunden vergeuden, ohne fündig zu werden. Sobald es Tag war, würde man den Toten entdecken und an Bord eines Schiffes holen. Man würde die Küstenwache rufen, die Untersuchung würde einsetzen. Diese würde unweigerlich zur Tamarisk und zu Bobby Faulkner führen.
Also tickte noch eine andere Uhr. Und Carver konnte nicht mehr tun, als sich zu beeilen. Ihm taten Rücken und Beine weh, und schweißnass, wie er war, kühlte er allmählich aus. Die Erschöpfung kam wie eine Woge über ihn.
Er lehnte kopfüber auf der Ruderpinne, als er durch den heulenden Wind und den klatschenden Regen ein Husten hörte.
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