Samuel Carver 01 - Target
genau ihm gegenüber. Carver war sicher, dass er die Schüsse aus diesem Gang gehört hatte.
Er akzeptierte die implizite Einladung und ging hinein. Wer auch immer die Schüsse abgegeben hatte, er hatte gehört werden wollen. Carver verstand das völlig. Auch er wollte die Sache hinter sich bringen. Der unumschränkte Charakter dieses Spiels hatte beinahe etwas Beruhigendes an sich. Die Fragen nach dem ›Warum‹ und ›Wozu‹ stellten sich nicht. Er brauchte den anderen Kerl nur zu töten, bevor der ihn erwischte. Das war eine unkomplizierte Aufgabe. Sie gefiel ihm.
Ein Dutzend Schritte weiter gab es links eine Öffnung. Dort hörte er Wasser rauschen, das sehr schnell zu fließen schien. Flach an die Wand gedrückt blieb er neben der Öffnung stehen. Er holte tief Luft, um seinen Pulsschlag zu senken, hielt die linke Hand mit der Taschenlampe unter die rechte mit der Pistole, um sie zu stützen, und trat dann hindurch – breitbeinig, die Knie leicht gebeugt, die Arme vor sich ausgestreckt.
Es war niemand da. Vor ihm zweigte ein weiterer, viel größerer Tunnel ab. Zwischen Decke und Boden hingen Plakate und Schaukästen an senkrecht gespannten Stahldrähten; die ganze Geschichte der Pariser Kanalisation wurde hier nach und nach ausgebreitet. Darunter bedeckte ein dickes Stahlgitter einen kräftigen Abwasserstrom. Dessen Rauschen hatte Carver von der Öffnung her gehört. An den Tunnelseiten befanden sich Gehsteige, wo die Besucher sicher auf dem Trockenen laufen konnten.
Carver trat in den Quertunnel zurück und ging weiter. Auch dort floss Abwasser, aber träge, und der Gestank war Übelkeit erregend.
Vor ihm verlief eine dicke Rohrleitung unter der Decke, die zur Warnung mit gestreiftem Plastikband umwickelt war, damit sich die Leute nicht den Kopf stießen. Dahinter gabelte sich der Tunnel. Die linke Abzweigung war eine enge Betonröhre. Die rechte war breiter und hatte einen Gehsteig neben dem Kanal, der mit einem erhöhten Metallgitter abgedeckt war. Carver wandte sich nach links. Das hatte keinen strategischen Grund. Er meinte nur, dass es in der Betonröhre nicht so ekelhaft stinken würde.
Den Lampenstrahl hin und her schwenkend ging er weiter und horchte aufmerksam auf jedes menschliche Geräusch.
Am Ende der Röhre trat er beinahe in einen großen offenen Raum, konnte aber gerade noch anhalten. Er ging ein paar Schritte zurück und wunderte sich, warum noch kein Schuss gefallen war. Seine Verfolger mussten doch ganz in der Nähe sein. Warum schossen sie nicht? Hatten sie doch den anderen Weg genommen, ohne dass er es bemerkt hätte? War er jetzt etwa zwischen ihnen?
Carver leuchtete in die Richtung, aus der er gekommen war. Niemand da. Er drehte sich wieder nach vorn, trat mit erhobener Waffe aus der Röhre und … nichts, nur ein höhlenartiger leerer Raum. Er ging noch ein paar Schritte. Der Lichtstrahl traf auf die große schwarze Kugel in ihrer Nische und die gesplitterte rote Holztür, die halb offenstand. Dahinter führte eine Wendeltreppe ins Freie. Dort waren seine Verfolger also hereingekommen.
Aber wo zum Teufel waren sie jetzt? Carver machte noch einen Schritt und hielt inne; dann drehte er sich einmal langsam um die eigene Achse, während er den ganzen Raum ableuchtete und die Pistole dabei mitzog. Er war zur Hälfte herum, als er hinter sich ein Ächzen hörte, einen menschlichen Laut wie von einem Gewichtheber beim Stemmen. Dem folgte unmittelbar ein langsames, hölzernes Knacken.
Carver fuhr just in dem Augenblick herum, da die Kugel aus der Halterung brach und auf ihn zurollte. Er feuerte viermal darauf, doch die Geschosse prallten ab und hinterließen kaum eine Schramme auf der steinharten Oberfläche; aber in den Nachhall der Schüsse mischte sich das tiefe, harte Poltern der Kugel auf dem Beton.
Carver rannte zum Ausgang der Röhre zurück, die nur ein paar Schritte entfernt war, rutschte mit einem Fuß im Nassen aus und stolperte. Die Kugel war fast bei ihm. Hastig richtete Carver sich auf, ließ dabei den Blendlaser fallen, der unter der Kugel zerdrückt wurde wie eine Blechdose, und plötzlich war es stockfinster. Carver sprang in die Röhre. Donnernd rollte die Kugel gegen die Öffnung und blieb hängen; sie war zu groß, um einzudringen.
Hektisch rannte Carver durch die pechschwarze Dunkelheit. Er nahm die Pistole in die linke Hand und strich der Führung halber mit den Fingern der rechten an der Wand entlang. Er sah nicht das Geringste, zwang sich aber zu dem
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