Samuel Carver 01 - Target
reden.
»Stellen Sie sich eine Welt ohne Farbe vor. Der Himmel ist grau. Die Häuser sind grau und die Menschen auch. Das Gras ist grau. Im Winter ist sogar der Schnee schmutzig grau. Niemand hat Geld, und der Kapitalismus ist der Feind, darum gibt es nichts zu kaufen, nichts liegt in den Schaufenstern der Geschäfte. Es gibt keine Reklame in den Straßen, keine hellen Lichter. Man stellt sich mit seiner Mutter für Brot an und fragt sich, wie betrunken der Vater später sein wird und wen von beiden er schlagen wird, wenn er nicht vorher vom Wodka bewusstlos umfällt. So bin ich aufgewachsen.
Wir lebten in einer Stadt namens Perm, über tausend Kilometer von Moskau entfernt. Ich war eine gute Schülerin. Ich hatte viel Zeit zu lernen, weil sich kein Junge für mich interessierte.«
»Ach, hören Sie auf«, unterbrach Carver sie, »das glaube ich nicht.«
»Doch, wirklich. Ich war kein hübsches Mädchen, und meine Augen hatten … Wie nennt man es, wenn sie in verschiedene Richtungen sehen?«
»Silberblick?«
»Ja, ich hatte einen Silberblick.«
»Ach, daher.«
»Daher was?«
»Ihre Augen sind ein kleines bisschen ungleich.« Aliks zuckte unwillkürlich zusammen. Carver verfluchte sich innerlich. »Verzeihen Sie, das war ziemlich dumm von mir. Eigentlich wollte ich sagen, dass Sie tolle Augen haben. Sie sind schön. Und sie sind irgendwie hypnotisch. Ich muss sie immer wieder ansehen, und äh … jetzt weiß ich, wieso.«
Carver wartete, ob ihm verziehen würde.
»Sie sagten gerade, dass …«
»Ich sagte, dass mein Silberblick damals noch nicht so – wie haben Sie es genannt? – hypnotisch war. Ich musste eine dicke, hässliche Brille tragen. Die anderen Kinder haben sich über mich lustig gemacht, die Jungen und die Mädchen auch. Ich wurde allmählich groß, bekam eine gute Figur, aber mein Gesicht, das konnte man vergessen …«
»Und wie hat sich das hässliche Entlein in den schönen Schwan verwandelt?«
Aliks nickte knapp, womit sie sich für das Kompliment bedankte und es zugleich beiseitewischte.
»Ich war beim Komsomol, der Jugendorganisation. Ich hatte für die Partei nichts übrig. Politik interessierte mich nicht. Aber man musste Mitglied werden, dann gab es Vergünstigungen: Sommerlager, bessere Schulen, Sie wissen schon. Nun, jedenfalls gab es einen Literaturwettbewerb. Unter den Kommunisten war es wichtig, kulturnyj zu sein.«
»Gebildet?«
»Ja. Man sollte ein Instrument spielen können oder Ballett tanzen oder zum Beispiel wie ich imstande sein, ein langes Essay über Tschechow zu schreiben. Ich behauptete, dass er die leere Dekadenz der Bourgeoisie im imperialistischen Russland entlarvt und die Notwendigkeit der Revolution aufgezeigt hat. Völliger Blödsinn! Aber damit gewann ich eine Reise zu einem großen Kongress des Komsomol in Moskau. Junge Athleten, Wissenschaftler, Künstler und Gelehrte nahmen daran teil. Wir wussten es damals nicht, aber der Staat benutzte diese Kongresse, um die besten jungen Leute herauszufiltern und sie für die verschiedenen Dienste auszubilden.«
»Aha!« Carver hob den Zeigefinger wie ein schmalziger Fernsehdetektiv, der einen Fall löst. »Da hat man Sie also ausgeguckt und zu einer gefährlichen Spionin gemacht!« Er wurde ernst. »Was haben Sie gemacht? Auswertung oder Beschaffung?«
»So könnte man es nennen. Bei dem Kongress kam eine Frau zu mir. Sie sagte: ›Darf ich mal?‹ und nahm mir die Brille ab. Sie sah mich schweigend an wie jemand im Museum, der ein Bild betrachtet und überlegt, ob es ihm gefällt. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wurde rot.
Sie brachte mich in ein Nebenzimmer. Da saßen zwei Männer hinter einem Schreibtisch. Ich hatte gerade erst meinen Essay den Juroren des Literaturwettbewerbs vorgelesen. Diese beiden Männer sahen genauso aus, so als wollten sie mich bewerten. Die Frau sagte: ›Zieh deine Kleider aus, meine Liebe.‹ Ich war sehr schüchtern. Ich hatte mich noch nie irgendeinem Mann gezeigt. Aber mir war klar, dass ich einem Befehl zu gehorchen hatte.
Die Frau sagte, ich solle mir keine Gedanken machen, es sei nicht anders als beim Arzt. Ich zog mich bis auf die Unterwäsche aus. Sie fingen zu dritt an, über mich zu reden. Es war schrecklich, es war demütigend, als wäre ich ein Stück Vieh auf dem Markt. Sie sprachen über meine Beine, meine Brüste, meinen Po, meinen Mund, meine Haare, alles. Der eine Mann sagte: ›Wir werden natürlich etwas an ihren Augen tun müssen.‹ Und der andere
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