Samuel Carver 01 - Target
doch jeder stehlen«, sagte sie.
»Unsinn, wir sind in Genf. Wir haben UNO-Gebäude voll zweifelhafter Beamter und Banken, die ihre Dollars bei der Entwicklungshilfe abgezweigt haben. An Bücherklau ist hier niemand interessiert. Die stehlen ganze Länder.«
Aliks sah ihn an. »Was wollen Sie mir damit sagen?«
»Nur dass hier Leute mit Diplomatenpass und schicken Anzügen herumlaufen, neben denen alles, was ich mache, wie ein Wohltätigkeitsakt aussieht. Kommen Sie weiter …«
Neben dem Antiquariat gab es ein kleines Café, wo ein paar Plastiktische draußen auf dem Kopf Steinpflaster standen. Einige Stufen führten in den kleinen, niedrigen Raum. Carver ging hinein.
Aliks folgte ihm und sah zu, wie der Besitzer hinter der Ladentheke hervorkam, um Carver herzlich zu umarmen und einen Wortschwall in schnellstem Französisch auszuspucken. Sie kam nicht mit, aber es hörte sich an, als ob er Carver mit Pablo anredete. Nach einer Weile verschwand er in der Küche und kam mit einer Plastiktüte voller Vorräte zurück.
Carver wollte bezahlen, aber der Mann ließ es nicht zu. Er grinste Aliks an, musterte sie von oben bis unten, dann wandte er sich ab, um Carver zwinkernd etwas zuzuraunen, und versetzte ihm einen Stoß in die Rippen. Aliks brauchte keine Französischkenntnisse, um zu verstehen, worum es ging.
»Es tut mir leid wegen Freddy«, sagte Carver, als sie weitergingen. »In Gegenwart einer attraktiven Frau ist er immer ein bisschen überdreht. Wenn Sie seine Frau kennen würden, wüssten Sie auch warum. Aber er ist ein guter Kerl.«
Er hielt die Tüte hoch. »Jedenfalls brauchen wir nicht zu hungern.«
Sie gingen eine Steintreppe hinauf und in einen Hof mit Kopfsteinpflaster, der an den Berg gebaut war. Außentreppen und überdachte Gänge wanden sich um die Häuser wie die Endlostreppen in einer Escher-Zeichnung. »So, da sind wir«, sagte Carver. »Leider wohne ich im obersten Stock.«
Aliks spähte mit einer gewissen Verzweiflung nach oben. »Müssen wir sämtliche Stufen hinaufsteigen? Bitte sagen Sie mir, dass es einen Aufzug gibt.«
»Tut mir leid. Die Behörden wollte das nicht genehmigen. Es würde den historischen Charakter dieses schönen, vierhundert Jahre alten Hauses zerstören. Wenigstens hält mich das fit.«
Er grinste, und Aliks lächelte ihn an, während sie das Gefühl genoss, dass Carvers wirklicher Charakter hinter seiner schützenden Maske hervorlugte.
Sie hatte keine Vorstellung davon, was sie in seiner Wohnung antreffen würde. Die Killer, die sie aus Russland kannte, waren entweder ordinäre Fieslinge oder Sauberkeitsfanatiker gewesen. Die eine Sorte lebte in Schweineställen voller Pornoheftchen, wo höchstens die Waffen sauber gemacht wurden und wo der einzige Raumschmuck der unvermeidliche Breitwandfernseher war. Die andere Sorte waren anal fixierte, emotional verkümmerte Sonderlinge. Sie lebten in steriler Einrichtung mit Chrom, Leder und schwarzem Marmor. Das Einzige, was beide Gruppen gemeinsam hatten, war der Breitbildfernseher.
Natürlich gab es auch eine dritte Gruppe, nämlich die Männer, die den Killern Anweisungen gaben. Die hatten für gewöhnlich ein paar teure Geliebte und eine Trophäenfrau, der sie das Einrichten überließen. Dadurch blieben sie zwischen ihren Shoppingausflügen beschäftigt.
Carver lebte nicht wie ein Russe, eher wie Aliks es sich von einem anständigen Engländer vorstellte. Die Wohnung hatte Deckenbalken und Holzböden mit alten, verblassten, leicht abgetretenen Perserteppichen. Es gab Bücherregale mit Biographien und über Militärgeschichte neben zerlesenen Thrillern, Schallplatten, hunderte von CDs und reihenweise Videos. Im Wohnzimmer standen zwei große alte Lehnsessel und ein langes, abgenutztes Chesterfieldsofa vor einem offenen Kamin. Aliks sah sich hier im Winter auf einem der Sessel eingerollt wie eine Katze liegen und die Wärme des Feuers genießen.
Carver war nach nebenan in die Küche verschwunden. Aliks hörte seine Stimme durch die Wand. »Ich koche Kaffee. Möchten Sie einen Espresso oder Cappuccino?«
»Das können Sie?«
»Natürlich. Ich bin nicht völlig verwildert. Was möchten Sie?«
»Cappuccino bitte. Ohne Zucker.«
Über dem Kamin hing ein Gemälde, eine Küstenszene mit dem Datum 1887 im impressionistischen Stil. Eine Familie stand am Rand des Wassers. Die Männer hatten sich die Hosen hochgekrempelt, die Frauen gerade so weit die Röcke gehoben, dass sie einen Zeh ins Meer tauchen konnten.
»Das ist
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