Samuel Carver 01 - Target
Schranktür.
Ihre Handlungen hatten überhaupt nichts Kokettes an sich. Carvers musternde Blicke schienen sie nicht zu berühren, ebenso wenig wie eine Tänzerin oder ein Model. Sie war es so sehr gewohnt, in Gegenwart anderer Leute nackt zu sein, dass Scham oder Schüchternheit sich längst verflüchtigt hatten. Es lag auch keine Eitelkeit in der Art, wie sie sich von allen Seiten betrachtete. Ihre Miene war ernst, die Begutachtung akribisch. Sie machte sich zur Arbeit fertig.
Als sie vom Spiegel wegtrat, sah sie Carver endlich an. »Was denkst du?«
»Dass du dir lieber schnell was überziehst, bevor ich die Selbstbeherrschung verliere.«
»Nein«, sagte sie. »Schluss mit dem Vergnügen. Jetzt wird gearbeitet.«
Sie ging zur Frisierkommode, die voll mit Schminktäschchen, Cremedosen, Haarsprayflaschen, Bürsten, Kämmen und zwei Einkaufstüten war. Die eine enthielt eine Kappe aus einem dicken Strumpfhosenstoff. Die zog sich Aliks über und stopfte sich die Haare darunter, bis alle Strähnen verschwunden waren. Zwischendurch sah sie Carvers Blick im Kommodenspiegel.
»Warst du schon immer reich?«, fragte sie.
Er zog verblüfft die Augenbrauen hoch. »Ich? Reich? Nein! Weit gefehlt.«
»Aber du warst doch Offizier. Ich dachte, in England wird man das nur, wenn man aus der Oberschicht kommt.«
Er musste grinsen. »Hat euch das der KGB beigebracht?«
»Du kannst dich ruhig über mich lustig machen. Es ist wahr. Die Reichen bestimmen über die Armen. So ist es überall.«
»Kann sein, aber ich bin nicht Offizier geworden, weil ich reich war. Ich wurde Offizier, weil ich ein adoptiertes Kind gewesen bin.«
Jetzt war sie verblüfft. Sie hielt in ihren Handgriffen inne und drehte sich zu ihm um. »Was heißt das?«
»Meine Mutter hat mich weggegeben. Sie war selbst noch ein Kind. Sie stammte aus einer Familie, wo Abtreibung nicht in Frage kam, aber eine jugendliche Tochter, die einen Kinderwagen schiebt, wollten sie auch nicht. Darum schickten sie sie in ein Schwesternheim, erzählten allen Leuten, sie würde Verwandte im Ausland besuchen, und sahen zu, dass sie das Baby schnellstmöglich loswurden.«
Aliks hatte sich wieder der Kommode zugewandt und kramte beim Zuhören in ihren Schminksachen. Jetzt sah sie ihn stirnrunzelnd im Spiegel an. »Wer hat dich dann großgezogen?«
»Ein Ehepaar mittleren Alters. Sie hatten nie eigene Kinder gehabt. Sie waren einigermaßen nett und meinten es gut, kamen aber nicht mit der Situation zurecht. Bis sie begriffen, dass sie sich eigentlich ein ruhiges Leben wünschten, hatten sie eine aufsässige Range, die lärmend durchs ganze Haus rannte. Darum schickten sie mich in ein Internat. Sie meinten, das sei das Beste für mich.«
»Haben sie dich geliebt?« Aliks puderte sich das Gesicht.
»Ich weiß es nicht. Jedenfalls haben sie es nicht gesagt. Aber ich glaube, sie hatten mich gern. Auf ihre Art.«
»Und du? Hast du sie geliebt?«
Carver seufzte. Er stand vom Bett auf und ging zu einem Sessel neben der Frisierkommode. »Naja, sie waren mir nicht unsympathisch«, sagte er beim Hinsetzen. »Und ich war ihnen dankbar. Mir war klar, dass sie Opfer für mich brachten; das wusste ich zu schätzen. Aber eigentlich wusste ich nicht, wie man liebt, nicht von Herzen. Ich meine, woher auch? Wenn man das nicht von seiner Mutter bekommen hat, weiß man erst sehr viel später, was Liebe ist, und plötzlich denkt man: Ach, das ist es also, worüber immer geredet wird. Das ist ein ziemlicher Schlag.«
»Und dann hast du sie auch noch verloren.«
»Ja. Das war nicht so gut.«
Aliks drehte die Mascarabürste durch die Wimpern. »Wie alt warst du, als du ins Internat kamst?«
»Acht.«
»Bozhe moi! Und das halten die Engländer für kultiviert!«
»Das ist noch gar nichts. Die Schule war in einem alten Landsitz untergebracht, meilenweit von allem weg. Am ersten Morgen wurden wir um sieben Uhr geweckt. Wir zogen uns an, und der Schlafsaalsprecher führte uns die Treppe runter auf den Rasen hinter dem Haus. Da wurden wir gedrillt, richtig militärisch. Im Eilschritt, marsch! Links um, rechts um, stillgestanden, rührt euch! Heute muss ich darüber lachen; es war einfach verrückt.«
»Trotzdem bist du Soldat geworden?«
»Nun ja, solche Schulen produzieren schon seit Jahrhunderten das gehobene Kanonenfutter. Sie wurden eigens geschaffen, um einigermaßen intelligente, durchtrainierte, emotional vermurkste junge Männer hervorzubringen, die sich in die gefährlichsten Gegenden
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