Samuel Carver 01 - Target
der Welt schicken lassen, um ihre Pflicht zu tun und nötigenfalls ihr Leben zu opfern.«
»Und einer davon bist du?«
»Wenn ich arbeite.«
»Und wenn du nicht arbeitest?«
»Weiß ich nicht. Das versuche ich gerade herauszufinden.«
Sie schwiegen eine Weile. Aliks konzentrierte sich auf ihren Lippenstift. Halb nackt, wie sie war, mit dem kahlen Kopf und dem frisch geschminkten Gesicht, das in einem Stil zurechtgemacht war, den Carver noch nicht an ihr gesehen hatte, wirkte sie seltsam unmenschlich – wie eine Schaufensterpuppe, die auf ihre Kleider wartet.
Sie griff in die zweite Tüte und nahm die Perücke heraus. Sie zog sie auf, bürstete sie, besprühte sie mit Haarspray, und plötzlich hatte Carver eine ganz andere Frau vor sich.
Er dachte, sie würde nun zielstrebig zum Schrank gehen, wo die Kleider hingen. Stattdessen setzte sie sich zögernd hin und blickte ins Leere. Ihre Konzentration war einer inneren Unsicherheit gewichen.
»Ich habe gestern Abend beim Erzählen etwas ausgelassen, über meine Vergangenheit«, sagte sie.
Carver lehnte sich zurück. »Aha …«
»Ich habe so getan, als wäre alles schlecht gewesen. Das ist nicht wahr. Was ich für den Staat tat, verschaffte mir bestimmte Privilegien. Zuhause in Perm trugen die Frauen hässliche, unförmige Säcke. Sie hatten nur schlechtes Essen, das nach nichts schmeckte. Sie mussten hart arbeiten. Meine Mutter war bereits mit vierzig alt; sie sah aus wie die Frauen im Westen mit Sechzig. Ich war in Moskau und trug Armani, Versace, Chanel. Ich hatte vorher nie mehr als zwei Paar Schuhe besessen, die noch dazu aus Kunstleder waren. Inzwischen hatte ich einen Schrank voller Schuhe aus Paris und Mailand.
Manchmal nahm ich Männer in meine Wohnung mit. Ich hatte schöne italienische Bettwäsche im Schlafzimmer und schottischen Whiskey im Barfach. Es war unvorstellbar. Niemand in Russland lebte so wie ich – außer in der höchsten Parteiebene. Ich liebte diese Sachen. Es war mir gleichgültig, was ich dafür tun musste, ich hätte sie nie wieder aufgegeben. Ich habe meine Seele verkauft.«
Carver richtete sich auf. »Gefällt dir meine Wohnung?«
»Wie bitte?«
»Gefällt dir meine Wohnung? Sie ist doch schön, nicht wahr? Du hast meinen Wagen noch nicht gesehen, der ist auch recht nett. Ebenso das Boot, das auf dem See liegt. Und du weißt bestimmt, wie ich mir das alles leisten konnte.«
»Was willst du damit sagen? Dass du genauso verdorben bist wie ich?«
»Im Grunde ja. Aber wer kann sich anmaßen zu sagen, was gut und was schlecht ist? Die Leute schwingen sich aufs hohe Ross. Sie führen ein bequemes, sicheres Leben und reden über moralische Werte; aber jeder Idiot kann den gesellschaftlich akzeptierten Mist daherplappern, der in dieser Woche gerade in ist, wenn er keine Konsequenzen zu fürchten hat und sich die Hände nicht schmutzig zu machen braucht. Ich habe jahrelang mit ansehen müssen, wie meine Freunde in Stücke gerissen wurden für Politiker, die das Blaue vom Himmel heruntergelogen haben. Ich kenne die wirklich üblen Kerle und weiß, wozu sie fähig sind. Das verändert den Blickwinkel enorm.«
Carver verzog das Gesicht. »Entschuldige, ich habe mich ein bisschen hineingesteigert.«
»Das macht nichts«, sagte sie. »Ich verstehe das. Und es gefällt mir, wenn du leidenschaftlich wirst. Ich sehe gern, wer du in Wirklichkeit bist.«
»Mann, du glaubst, das ist mein wirkliches Ich?«
Sie wollte gerade etwas darauf erwidern, als es an der Tür klopfte. Carver ging hin und nahm unterwegs seine Pistole vom Nachttisch. Er öffnete einen Spalt breit und entspannte sich, als er sah, wer da stand.
»Thor! Freut mich. Komm rein.«
Larssons schlaksige Gestalt – man sah hauptsächlich Arme, Beine und Haare – schlenderte ins Zimmer. Er trug zwei große Nylongerätetaschen, die ihm von den Schultern baumelten. Er sah Aliks vom Schminktisch aufstehen und hielt inne.
»Oh, Verzeihung. Ich wusste nicht …« Ein schüchternes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, und um die blauen Augen bildeten sich Lachfältchen. »Störe ich?«
»Ganz und gar nicht«, antwortete Carver. »Wir machen uns nur fertig. Thor Larsson, das ist Aleksandra Petrowa.«
»Nenn mich Aliks«, sagte sie, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen flüchtigen Wangenkuss.
»Ah, ja … Thor«, erwiderte er errötend.
Aliks bedachte ihn mit einem Lächeln, das ihn für seine Verlegenheit neckte und zugleich als Freund anerkannte.
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