Samuel Carver 02 - Survivor
nicht.
Dass Carver gesund und am Leben war, dass Olga Schukowskajas Behauptung, er sei tot, eine gemeine Lüge gewesen war, hätte sie beinahe überwältigt. Dann hatte sie selbst Lügen erzählt, damit Carver glaubte, sie liebe ihn nicht mehr. Sie war aufgewühlt gewesen, verwirrt, unsicher, hatte kaum gewusst, was sie sagte, fühlte sich selbst von dem Schmerz zerrissen, den sie ihm grausam zufügte. Aber es hatte sein müssen.
Denn wenn sie ihm auch nur ein kleines bisschen Grund zur Hoffnung gegeben hätte, er hätte sofort versucht, sie mitzunehmen. Sie war dabei gewesen, als Vermulen ihren Beschützern Anordnungen gab, und sie wusste, dass sie nicht gezögert hätten, tödliche Gewalt gegen den Mann anzuwenden, den sie als Kenny Wynter kannten. Sie wären vier gegen einen gewesen. Carver würde seine Chancen trotzdem nutzen, aber sie konnte das Risiko nicht eingehen, dass er unterlag. Sie hatte schon einmal den Schmerz über seinen Tod durchlitten. Ein zweites Mal würde sie das nicht ertragen, genauso wenig wie das Wissen, dass sie der Grund dafür gewesen wäre.
Sie musste einen Weg finden, Carver die Wahrheit zu sagen: Sie gehörte ihm, daran würde sich nie etwas ändern. Und sie würde einen Weg finden, zu ihm zurückzukehren, egal, wie lange das dauerte. Wenn er die Wahrheit wüsste, würde er auf sie warten, dass wusste sie genau.
In der Zwischenzeit hatte sie ein drängenderes Problem zu lösen. Seit diesem Nachmittag war sie an Vermulen gebunden. Sie hatte aus freien Stücken einen Eid geschworen. Daran würde sie sich erst einmal halten müssen.
»Alles in Ordnung, Mrs V.?«, fragte der Fahrer bei einem Blick in den Rückspiegel. »Nehmen Sie ’s mir nicht übel, wenn ich das sage, aber Sie sehen ein bisschen mitgenommen aus. Kann ich Ihnen nicht verdenken nach so einer Übergabe. Muss stressig sein, wenn man’s nicht gewöhnt ist.«
»Ja«, sagte sie, ohne nachzudenken. Sie hatte nur ihren Namen gehört, »Mrs V.«, und seine Bedeutung war ein solcher Schlag gewesen, dass die restlichen Worte nur als undeutliches Gemurmel bei ihr ankamen. Sie zwang sich zu lächeln und fügte hinzu: »Es geht mir gut, danke.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Ma’am. Wir bringen Sie sicher zum General zurück, dann können Sie endlich Ihre Hochzeitsnacht genießen. Sie wissen, was ich meine?«
Der Fahrer hieß Maroni. Bei der letzten Bemerkung hatte er frech gegrinst und mit den Augen gezwinkert. Dann machte er wieder ein ernstes Gesicht und sagte ein bisschen verlegen: »Sie sollen nur wissen, dass es großartig ist, den General wieder glücklich zu sehen, verstehen Sie, wie früher. Das ist Ihretwegen, Ma’am. Wir Jungs wissen zu schätzen, was Sie für ihn getan haben. Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie es, Sie brauchen nur zu fragen.«
»Danke, Mr Maroni«, sagte sie. »Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
Er nickte wie beiläufig, als wäre das eine Kleinigkeit, aber sie konnte sehen, dass er sich freute, weil sie sich an seinen Namen erinnert hatte. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass ihr Ehemann nicht einmal ihren richtigen Namen kannte. Er hatte sich in eine Frau namens Natalja verliebt, und darum würde sie für ihn Natalja Vermulen werden müssen.
In gewisser Weise machte das die Sache leichter. Natalja kannte Samuel Carver nicht.
76
Der Agent des MI6 in dem Wagen dahinter war endlich zur Zentrale durchgekommen. Sein Vorgesetzter hielt sich nicht mit Höflichkeiten auf.
»Haben Sie das Dokument?«, fragte Grantham.
»Fürchte, nein. Carver hat das Hotel nicht verlassen. Die Petrowa kam umringt von Männern heraus. Sie schien nicht unter Zwang mitzugehen. Sie hielt einen versiegelten Umschlag in der Hand. Ich nehme an, das war es, was wir haben wollen.«
»Mist … Wo sind Sie jetzt?«
»Verfolge Petrowa. Sie sitzt in einem Wagen mit einem von Vermulens Leuten. Die anderen sind in einen Van eingestiegen und fahren direkt vor ihr. Warten Sie … Sie biegen von der Straße ab, die Richtung Flugplatz Cannes Mandelieu geht. Da starten hauptsächlich private Maschinen und Charterflüge. Soll ich mich an sie ranhängen?«
»Unbedingt. Wenn sie in ein Flugzeug steigt, will ich die Registriernummer. Damit verfolgen wir sie dann weiter.«
Der Agent beendete den Anruf und fuhr auf das Flughafengelände.
In London ließ sich Grantham mit dem zweiten Kulturattaché der russischen Botschaft verbinden. Der normale diplomatische und konsulare Arbeitstag endete wochentags um halb fünf, aber der
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