Samuel Carver 05 - Collapse
Es werde sich lohnen, den Redenschreibern Zeit zu geben, meinten sie. Er hatte abgelehnt. »Ich will keine vorbereitete Rede. Ich will einfach rausgehen und ein paar ehrliche Worte sprechen.« Sie hatten protestiert, aber dabei schon überlegt, wie sich seine Entscheidung, sich freimütig zum Verlust eines Freundes zu äußern, als Story verwerten ließe. Das war doch ein netter, menschlicher Zug; die Medien würden sich darauf stürzen. Natürlich hatte er Stunden Zeit gehabt, sich seine Reaktion auf das wahrscheinliche Ableben Orwells zurechtzulegen, und Monate, um über die Zerstörung der Raffinerie nachzudenken. Er würde also keineswegs aus dem Stegreif reden. Es war auch kein Zufall, dass die paar Phrasen – Opfer das Wichtigste … Nicholas Berater, Mitarbeiter, Freund … menschliche Tragödie, keine finanzielle … kein Zurück zur Tagesordnung – auf dem Blatt Papier in seiner Hand so groß geschrieben waren. Sogar sein zögerliches Erscheinen hatte er genau bedacht.
Zorn gab sich nervös und räusperte sich, während er zwischen den Journalisten hin und her blickte. Es sollten möglichst viele den Eindruck bekommen, dass er sie direkt ansah. Kurz erschrak er, weil ihm einfiel, dass Carver unter ihnen sein könnte, um die tödliche Kugel auf ihn abzufeuern. Aber die Vorstellung machte ihm keine Angst, sie erregte ihn. Ein bisschen Gefahr für Leib und Leben gab seiner Zockerei erst die richtige Würze. Er hustete, um seine Erregung zu überspielen,dann begann er zu reden. »Ich möchte mich kurz zu den tragischen Ereignissen in Rosconway äußern.«
Er blickte auf seine Notizen, als brauchte er die Stichworte, obwohl er genau wusste, was er sagen wollte. »Meine Gedanken gelten in erster Linie den Opfern dieser schrecklichen Gräueltat, den Toten, den Verletzten und den Angehörigen, die trauern und Qualen leiden. Es wird viel über die politischen und ökonomischen Konsequenzen gesprochen werden, aber ich meine, wir dürfen nie aus dem Blick verlieren, dass wir es mit einer menschlichen Tragödie zu tun haben, die uns alle angeht.«
Wieder sah er seine Zuhörer an, um sie in seine Rede einzubeziehen. Carver sah er nicht, nur ein, zwei Journalisten, die ihm zunickten. Gut, sie hatten angebissen. Jetzt würde er sie behutsam an Land ziehen.
»Natürlich ist kein Menschenleben wertvoller als ein anderes. Doch Sie werden mir hoffentlich gestatten, meinem Kollegen und lieben Freund, Nicholas Orwell, besondere Achtung zu erweisen. Ich habe ihn während der vergangenen Monate sehr gut kennen gelernt, da wir zusammen an der Gründung des Zorn Global Investmentfonds gearbeitet haben. Für die Menschen hier war er natürlich ein starker, viel bewunderter Führer …« Totaler Quatsch. Zorn wusste genau, dass Orwell von vielen, wenn nicht den meisten seiner früheren Wähler sehr verachtet worden war. Aber daran wollte jetzt niemand erinnert werden.
»Aber für mich war er ein feiner Kerl, ein kluger Ratgeber und ein unschätzbarer Mitarbeiter meines Unternehmens. Vor allem besaß er eine unglaubliche Gabe, zu anderen Leuten eine Beziehung herzustellen, ihr Vertrauen und Einverständnis zu gewinnen. Nicholas gab unseren Investoren das Gefühl, echte Partner eines Fonds zu sein, der das Ziel verfolgte, Menschenvieler Nationen, unterschiedlicher Kulturen und aller Generationen in einem weltumspannenden Unternehmen zu vereinen. Wir werden dich alle vermissen, Nick, aber ich weiß, du wirst, wo immer du jetzt bist, erfreut sein zu hören, dass wir den Kopf nicht hängen lassen. Zorn Global hat seine Geschäfte bereits aufgenommen, und die offizielle Eröffnung wird wie geplant am Freitagabend stattfinden.«
Der letzte Satz hatte wie beabsichtigt allgemeine Aufmerksamkeit erregt. Nach den Pflichtäußerungen endlich ein Brocken harter Information: Zorn Global machte weiter, auch ohne Orwell. Auf den Gedanken, dass er, der Gastgeber, ebenfalls abwesend sein könnte, kam niemand.
Er fuhr fort: »Wie viele von Ihnen wissen, habe ich vor Monaten genau vor solch einem Ereignis gewarnt. Und noch in dieser Woche habe ich in der Sendung HARDtalk, die von BBC World ausgestrahlt wird, darüber diskutiert. Es ist auch kein Geheimnis, dass meine Sorge über die Sicherheit meine Investmententscheidungen beeinflusst hat, sowohl in eigener Sache als auch im Interesse der Investoren von Zorn Global. Wissen Sie, schon in der vergangenen Stunde habe ich auf mehreren finanzwirtschaftlichen Webseiten Spekulationen gelesen, ich
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