Samuel Carver 05 - Collapse
vom Boden auf. Sie waren an einer Londoner Sprachschule als Studenten eingeschrieben. Einer der Männer zeigte auf den großen Bildschirm, der vor dem Number One Court installiert war, direkt gegenüber der Terrasse, und sagte etwas, das die junge Frau zum Lachen brachte, die sich gerade ein paar Grashalme vom Rock wischte. Daraufhin drehte sich ein Mann, der in der Nähe saß, nach ihr um, fixierte sie mit freimütig anerkennendem Blick und nahm ihre langen schwarzen Haare, das hübsche, freundliche Gesicht, die kecken Brüste und die langen nackten Beine in Augenschein.
Sie trug eine weiche Ledertasche über der Schulter, in dieallerhand hineinpasste, zum Beispiel ihr Handy, ihr Schminketui, eine Strickjacke für den Fall, dass es kühl werden sollte, und einiges andere, was junge Frauen brauchen. Darüber hinaus hatte sie auch einen EpiPen bei sich, wie ihn Diabetiker für ihre Insulininjektionen benutzen, allerdings mit einem tödlichen Gift gefüllt, sowie eine geladene QSZ-92, eine 9mm-Pistole aus einer chinesischen Waffenfabrik – und das benötigten nicht viele junge Frauen.
Choi hatte sich eine dunkle Sonnenbrille aufgesetzt, damit nicht auffiel, dass er den Eingang beobachtete. Er sah Carver aus dem Centre Court kommen. Choi wartete einen Moment lang, um zu sehen, wohin seine Zielperson wollte, doch Carver blieb stehen. Er wartete auf etwas. Worauf? Er blickte auf die Uhr; scheinbar war er angespannt. Dann erschien eine Frau in dem Durchgang zum Tenniscourt. Choi erkannte sie. Es war diese Russin, Petrowa, die vor zwei Tagen bei Carver über Nacht geblieben und bei deren Erwähnung Sternberg so wütend geworden war. Choi runzelte die Stirn. Hatte Carver wirklich ein Verhältnis angefangen, obwohl er an einem Auftrag arbeitete? Oder arbeiteten sie gemeinsam daran? Egal. Carver stand ungeschützt im Freien und war leicht angreifbar. So eine Situation würde sich so schnell nicht wieder ergeben. Das war der Augenblick, um zuzuschlagen.
Ohne das geringste Anzeichen von Dringlichkeit stand Choi von seinem Tisch auf, nahm zwei Zwanzig-Pfund-Scheine aus seinem Portemonnaie und legte sie unter eine der Teetassen. »Wir müssen gehen«, sagte er zu seinen beiden Begleitern, die daraufhin ebenfalls aufstanden. In sein Mikrofon sagte er nur ein Wort: »Los!«
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Carver war ausnahmsweise einmal nicht froh, Alix zu sehen. »Was ist denn los?«, fragte er ungeduldig.
Sie behielt den gutgelaunten Ausdruck bei und tat, als flirtete sie mit ihm, während sie ihm zuraunte: »Zorn hat gesagt, dass er gleich geht.«
»Hätte da nicht eine SMS gereicht?« Er lächelte zurück.
»Es war einfacher zu sagen, dass ich mich frisch machen will, und du bist hier draußen besser platziert, wenn er rauskommt. Er wird aus dieser Tür kommen, gleich da drüben, sodass du ihn sehen kannst. Außerdem wollte ich bei dir sein, nur eine oder zwei Minuten …«
Carver wollte gerade etwas erwidern, als er sah, wie sie plötzlich misstrauisch wurde. Sie trat dicht an ihn heran und kam mit dem Mund an sein Ohr. »Neben der Bühne steht ein Mann, der dich beobachtet. Er sieht wie ein Chinese aus, ziemlich groß, schlank, schwarze Designerjeans, schwarzes Jackett, dunkle Sonnenbrille …«
»Chinese?« Carver wunderte sich, welches Interesse die an ihm haben könnten. In Thailand hatte er sich ernsthaft Feinde gemacht, aber das war lange her. Und sie waren alle tot gewesen, als er das Land verließ.
»Bist du sicher, dass er nicht einfach in die Gegend guckt?«
»Ja. Das sieht nach Überwachung aus.« Sie zog die Stirn kraus. »Es sind noch zwei andere bei ihm, ähnlich gekleidet, Jeans und Jackett, aber lässiger, und er spricht mit ihnen. Die sehen auch hierher. Okay, jetzt kommen sie auf uns zu, schwärmen aus.«
»Bewaffnet?«
»Kann ich nicht erkennen, aber gut möglich. Unter den Jacketts … ja doch.«
»Nimm meine Hand«, sagte Carver. »Vielleicht haben sie es auf dich, nicht auf mich abgesehen. Mal sehen, wie stark ihr Interesse ist.«
Er hielt sie energisch fest, drehte sich um und ging mit großen Schritten auf den St. Mary’s Walk zu, den Weg, der in nordsüdlicher Richtung mitten durch das Turniergelände führt. Er beginnt oben an der Aorangi-Terrasse und verläuft hangabwärts zum anderen Ende des Clubgeländes, sodass er praktisch an jedem wichtigen Tenniscourt und Gebäude vorbeikommt.
Mit dem raschen, zielstrebigen Gang von Leuten, die eine dringende Verabredung einhalten wollen, bewegten sich Carver und Alix
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