Samuel Koch - Zwei Leben
sich herumschlägt!â
Das stimmt. Es besteht ein Riesenunterschied zwischen einem Paraplegiker, der ab dem Bauchnabel abwärts gelähmt ist, aber oberhalb davon noch seine volle Bewegungsfähigkeit hat, und einem Tetraplegiker wie mir. Ich kann nicht selbstständig sitzen. Ich kann keine Hand rühren. Ich kann nicht selbst essen und nicht selbst trinken, nicht mal das Telefon abnehmen. Wer dagegen ab dem Lendenwirbelbereich gelähmt ist, kann sich ohne Probleme die Nase schnäuzen, die Zähne putzen oder jemanden in den Arm nehmen. Was würde ich darum geben, wenn ich das könnte!
Seit ich hin und wieder im Interesse der Ãffentlichkeit stehe, fallen mir so einige Dinge ganz anders auf. Es gibt natürlich immer Themen, die mir zwar manchmal lustig, aber sinnarm erscheinen â Klatsch und Tratsch, Voyeurismus oder Neid gehören für mich dazu. Gleichzeitig gibt es durchaus Reportagen, Berichte und Talkshows, in denen wirklich tief gehende Fragen erörtert werden und den Geschichten von Menschen Raum und Zeit gegeben wird, um sich zu entfalten. Solche Sendungen bleiben hängen und bewirken im besten Fall etwas Positives bei denen, die sie anschauen.
Meine Geschichte wurde bisher oft von der Klatsch- und Tratsch-Abteilung aufgegriffen. Das hat sicher seine Berechtigung, aber manchmal staune ich schon ein bisschen über die Ausrichtung der Fragen, die mir gestellt werden.
Ich will das an einem Beispiel veranschaulichen: Wenn mir oder meiner Familie ein Journalist ein Mikrofon vor die Nase hält und wissen will, was es bei uns an Weihnachten zu essen gibt â da frage ich mich schon, ob das überhaupt jemanden interessiert, und wenn ja, warum.
Wunsch und Wirklichkeit
âWer weià schon wirklich, wie es Samuel geht?â, fragt sich meine Mutter. Und damit stellt sie eine wichtige Frage. âWir haben immer wieder das Gefühl, dass es Samuel nach der Auffassung bestimmter Medien einfach nicht schlecht gehen darf !â
Natürlich gibt es immer wieder kleine, mühsam errungene Mini-Erfolge, die manche unter dem Begriff âFortschritteâ verbuchen würden. SchlieÃlich musste ich vor einem Jahr noch beatmet werden; das ist heute nicht mehr nötig. Ich kann meinen Kopf selbstständig aufrecht halten, ich kann mithilfe meiner Schultermuskulatur meinen rechten Arm so weit bewegen, dass ich damit einen Elektrorollstuhl bedienen kann. Das alles ist wahr. Doch wahr ist ebenso, dass ich immer wieder Rückschläge erlebe und dass ich vor allem so gut wie alle Dinge nach wie vor nicht tun kann.
In einer Sendung mit einem bekannten Showmaster sollte ich im Fernsehen auftreten. Der elektrische Rollstuhl, in dem ich normalerweise sitze, wenn ich mich halbwegs eigenständig fortbewegen will, ist groà und klobig. Die Redaktion der TV-Sendung hätte es schöner gefunden, wenn ich einen kleineren mechanischen Rollstuhl benutzt hätte, damit man mehr Mensch als Maschine sieht.
âDie Redaktion wollte ihn regelrecht dazu überreden!â, erinnert sich meine Mutter. âIch habe mich immer gefragt, warum. Bis ich drauf gekommen bin!â
Was ist der Grund für solche Ideen, die mit meiner Lebensrealität wenig zu tun haben?
âDie Leute wollen einfach, dass es Samuel wieder gut geht!â, sagt meine Mutter. Ihre These lautet: Ich spiele seit meinem Unfall eine Rolle im kollektiven Bewusstsein der Fernseh-Nation. Ein netter Junge, durch einen tragischen Unfall aus dem normalen Leben gerissen, der nun heldenhaft darum kämpft, seine Lage zu meistern, und der vielleicht sogar sein Leben in Teilen wieder zurückerobern kann. Und als Beweis, wie ihm das stückchenweise gelingt, wollen wir den guten Samuel doch bitteschön in unserer Show am besten nur in dem leichten Rollstuhl sehen. Der groÃe sieht zu sehr nach Tragödie aus ...
Schöne Geschichte, oder?
Die hat nur einen Haken: Auch sie stimmt nur bedingt. Denn diese Version der TV-Wahrheit blendet die Frustration, Kämpfe und Rückschläge aus. Die Sorge, die mich immer wieder überfällt, dass alles so bleiben könnte, wie es jetzt ist. Meine Unselbstständigkeit, mein Ringen um jede Muskelfaser, die ich jeden Tag wieder neu aktivieren muss. Keine schöne Geschichte?
Jedenfalls nicht für die meisten Showformate im Fernsehen. âSamuel ist bei solchen Anfragen wie der mit dem Rollstuhl sehr beeinflussbarâ, erklärt meine
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