Samuel Koch - Zwei Leben
da jemand dahinterstecken muss, der nicht so zerbrochen, verwirrt und planlos ist wie ich.
Ich versuche zwar, mich immer wieder selbst zu motivieren, indem ich mich lieber mit schönen und hoffnungsvollen Gedanken beschäftige als mit traurigen. Aber auch diese Art von positivem Denken hat ihre Grenzen. Es ist ein bisschen wie bei Münchhausen, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht. Gott sei Dank muss ich etwas so Aussichtsloses nicht auch noch allein hinkriegen!
Der Pastor fragte mich im selben Gottesdienst, ob ich mein Leben auch heute noch jeden Tag als Geschenk empfinden könne. Ich antwortete: âEs ist Quatsch, dass jeder Tag ein wunderschönes Geschenk ist. Das weià übrigens auch jeder, der nicht im Rollstuhl sitzt!â
Ob man einen Tag als Geschenk betrachten kann oder nicht, ist immer eine Frage der Perspektive. Die hat sich bei mir schon gewaltig verändert. Wenn es mir auf der Intensivstation wenigstens mal nicht schlechter ging als am Tag zuvor, war das für mich ein Geschenk. Es gab und gibt aber auch Tage, die kann ich beim besten Willen nicht rosarot sehen, und ich finde, das muss auch nicht sein.
Es gab vor allem auf der Intensivstation Momente, in denen ich dachte: Schade eigentlich, dass ich kein Pferd bin, dann hätte man mich längst eingeschläfert oder mir den Gnadenschuss verpasst.
Meine Mama sagt: âEs gibt Tage, an denen einfach alles schiefgeht oder Samuel einen herben Rückschlag erleidet. Dann sagt er auch mal: ,Mama, das ist doch alles ScheiÃe. Hol den Tierarzt.â â
Es ist wohl ein Prozess, in dem ich mich befinde, und ich stecke noch mittendrin.
Des Pudels Kern
Sehr spannend finde ich eine Erkenntnis, die mir erst kürzlich gekommen ist, als ich mich mit der Frage auseinandergesetzt habe, was an mir eigentlich noch so ist wie früher. Was meinen Kern, mein innerstes Wesen ausmacht.
Eine Erfahrung, die sich durch groÃe Teile meiner Jugendzeit zog, war, dass ich ganz oft gefragt wurde: âWie schaffst du das eigentlich alles, was du machst? Wie kommst du zu deiner Ausstrahlung? Was ist dein Geheimnis?â
Meine Antwort lautete dann: âGanz einfach: Ich bete!â
Und genau das ist auch heute noch meine Antwort auf dieselbe Frage, auch wenn die jetzt unter ganz anderen Vorzeichen erfolgt. Nach allem, was geschehen ist, sind nur ganz wenige Dinge in meinem Leben gleich geblieben, und dieser Kernpunkt gehört dazu.
Es gab durchaus auch Momente, in denen ich die Existenz Gottes im Ganzen infrage gestellt habe. Was, wenn das alles nur Einbildung, Wunschdenken und Placeboeffekte waren? Doch dann half mir zum Beispiel die berühmte Wette des französischen Mathematikers Blaise Pascal: Er meinte, dass eine Analyse der Optionen hinsichtlich des Glaubens an Gott zu folgenden Resultaten führt:
Man glaubt an Gott, und Gott existiert â in diesem Fall wird man belohnt.
Man glaubt an Gott, und Gott existiert nicht â in diesem Fall gewinnt man nichts (verliert aber auch nichts).
Man glaubt nicht an Gott, und Gott existiert nicht â in diesem Fall gewinnt man ebenfalls nichts (verliert aber auch nichts).
Man glaubt nicht an Gott, und Gott existiert â in diesem Fall verliert man.
Ausgehend von dieser Theorie sollte eigentlich jeder logisch denkende Mensch an Gott glauben. Pascals Zeitgenosse Sir Isaac Newton, englischer Physiker und Astronom, schrieb: âWer nur halb nachdenkt, der glaubt an keinen Gott, wer aber richtig nachdenkt, der muss an Gott glauben.â Und deshalb glaube ich lieber daran, dass das alles nicht nur ein blöder Unfall gewesen ist und fertig, sondern dass auch dieses Kapitel meines Lebens zu einer Geschichte gehört, die noch nicht zu Ende ist.
12. Alltag und andere Schwierigkeiten
Das Leben ist kein Ponyhof. Erst recht nicht, wenn man nur noch seinen Kopf bewegen kann. Wenn ich früher irgendwo in der Stadt einen Rollstuhlfahrer gesehen habe, dachte ich höchstens: âAch, der Arme, blöd gelaufenâ, und ging dann dekadent meines Weges. Nie im Leben hätte ich mir vor meinem Unfall vorstellen können, was das überhaupt bedeutet und welche extremen Schwierigkeiten es mit sich bringt, im Rollstuhl zu sitzen. Oder präziser: Tetraplegiker zu sein.
Aber genau genommen ist Sitzen nicht gleich Sitzen. Der Rollstuhl erweckt nur den fälschlichen Eindruck, dass ich sitze. Würde man mich einfach so, ohne Rückenlehne und Seitenteile,
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