Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
hielt neben mir an. Wie in Trance stieg ich ein und murmelte geistesabwesend meine Adresse. Auf dem Rücksitz zusammengesunken, merkte ich, dass mein Herz ganz sonderbar schlug, und ich spürte im Magen einen Druck, wie ich ihn das letzte Mal als Teenager gefühlt hatte.
Während das Taxi sich durch den dichten Verkehr schlängelte, traf mich plötzlich eine Erkenntnis wie ein Blitzschlag. Ich hatte Gabriela, die Liebe meiner Kindheit, wiedergefunden, weil ich einen Teller Milch in meinen Flur gestellt hatte. Vielleicht hätte dieser Umstand jemand anderes gar nicht weiter gewundert, doch mir kam es wie eine Offenbarung vor. Die Katze hatte sich in meiner Wohnung eingenistet, sie hatte mich zu Titus geführt, und der Alte hatte mich zu dem Eisenbahnladen geschickt und so zu Gabriela geführt.
Das Stück Schiene in meiner Hosentasche gewann mit einem Mal eine fast schicksalhafte Bedeutung. Diese kleine Aluminiumkurve hatte mich aus meiner Bahn gelenkt und mir einen neuen Weg eröffnet.
Doch was hatte das alles für einen Sinn? Bedeutete das, ich sollte Gabriela suchen? Sollte ich nach mehr als dreißig Jahren den Faden einfach wieder aufnehmen? Wohin würde das führen?
Die Kleinigkeiten sind es, bei denen die Liebe beginnt, dachte ich. Liebe im Kleinen, das ist das Geheimnis. Diese Worte schienen nicht von mir zu kommen, sondern von dem Sonnenstrahl, der durch das Taxifenster fiel und Myriaden von Staubpartikeln sichtbar machte.
Eins war klar: Ohne diesen Teller Milch hätte ich Gabriela nicht gefunden. Mit ihm hatte alles angefangen.
DREIKÖNIGSTAG
Drei ganze Tage, die mir im Nachhinein vorkamen wie ein langer und quälender Traum, hatte mich die Grippe ans Bett gefesselt. In dieser Zeit war Mishima kaum von meiner Seite gewichen. Nun kam sie angeschnurrt und stupste mir mit dem Kopf gegen die Wange, als wollte sie sagen: »Jetzt mach schon, steh auf. Du hast zu tun: mir Futter und Wasser hinstellen, mein Klo sauber machen und all das.«
Ich linste auf den Wecker. Vor allem wollte ich wissen, welcher Tag eigentlich war, ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Sechster Januar, 10:44 Uhr.
Dreikönigstag, dachte ich, während ich mit dem Fuß den kalten Boden ertastete. Ich fühlte mich noch etwas schwach, aber das Fieber schien vorüber zu sein, und ich verspürte einen leichten Hunger. Das Schlimmste war offenbar ausgestanden. Leider bedeutete das auch, dass ich keine Entschuldigung mehr hatte, dem Mittagessen bei meiner Schwester fernzubleiben.
Während der letzten Tage hatte ich mich anscheinend wie ein Gespenst durch die Wohnung bewegt, denn ich konnte mich nicht daran erinnern, Mishimas Napf gefüllt zu haben. Doch neben der Schale fanden sich einpaar verstreute Bröckchen, also musste ich es zumindest versucht haben.
Nachdem ich der Katze frisches Wasser hingestellt hatte, warf ich einen Blick ins Esszimmer. Auf dem Tisch lag ein Blatt Papier, auf dem ich in großen Buchstaben etwas hingekrakelt hatte. Ein unbeholfener Bericht über meine Begegnung mit Gabriela an der Ampel.
Also war es doch kein Traum gewesen, dachte ich, und mich durchströmte ein zartes Glücksgefühl.
Ich begann die Arbeitsplatte in der Küche sauber zu machen; verschüttete Brühe und Reiskörner zeugten von meinen Versuchen, mich während meiner Krankheit zu ernähren. Im Radio wurde das Verdi-Requiem gespielt, ein verstörendes Stück, bei dem ganz sanfte und poetische Passagen durch ohrenbetäubende Einbrüche mit Pauke und Becken unterbrochen werden.
Ich schaltete das Radio aus und blickte prüfend durch das Fenster in den Vormittagshimmel; ein Spatz flog vorüber.
Ich werde zu diesem Essen gehen, dachte ich bei mir, ohne recht zu wissen, warum. Vielleicht ist das, was wir Intuition nennen, nur der für uns spürbare Teil eines uns innewohnenden Selbst, das gelegentlich die Führung über unser Leben übernimmt. Dieser Gedanke ist zumindest seltsam, wenn nicht gar beunruhigend, denn über eine solche versteckte »Stimme« hat nicht einmal der rationalste Mensch Kontrolle.
Als ich am Telefon vorbeikam, sah ich, dass der Anrufbeantworter nicht blinkte. Drei Tage lang hatte mich also niemand vermisst. Es hätten drei Jahre gewesen sein können, und keiner hätte es gemerkt, wie bei dem Mann in Tokio.
Mishima rieb sich an meinen Beinen, um sich bemerkbar zu machen.
»Ich weiß ja, dass du da bist«, sagte ich zu ihr. »Und da oben sitzt Titus. Drei Könige, die nicht wissen, bei wem sie ihre Geschenke
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