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Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen

Titel: Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesc Miralles
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Szene zum hundertsten Mal durch gegangen war, kam ich zu dem Schluss, dass es nicht nur dieser Kuss gewesen war, weswegen ich mich in Gabriela verliebt hatte. Es war die Stimme. Diese sanfte Kühnheit, mit der sie mich fragte, ob ich schon einmal einen Schmetterlingskuss bekommen hatte. Die Berührung war lediglich das Echo ihrer Worte gewesen, wie der Lichtschein im Weltall, nachdem ein Stern explodiert ist. Mit dieser kurzen Frage, dieser zarten, kindlichen Berührung hatte sie meinen Panzer, die Hülle um mein Herz, durchbrochen.
    »Die Schale war geknackt«, wie Hesse sagen würde, und ich war aus mir herausgegangen, mit dem unsicheren Schritt eines Kükens, das kurz vorher noch blind gewesen war. Blind für etwas, das es bis dahin nicht kannte: liebevolle Zuneigung. Scheinbar genügt schon ein bisschen Zärtlichkeit, um die starrsten Wände einer Seele einzureißen.
    Man sagt, die erste Liebe hat eine ganz besondere Kraft, weil es uns überrascht, dass jemand uns bemerkt hat.
    Du verbringst dein Leben in einem Gefängnis, das du dir selbst gebaut hast, und eines Tages klingelt es an der Tür. Jemand ist gekommen, um dich abzuholen, und du denkst, jetzt wirst du nie mehr allein sein. Aber was passiert, wenn du aufmachst und feststellst, dass da niemand ist? Wenn der Mensch vor deiner Tür schon wiederweggegangen ist? Vielleicht war das Klopfen in deinen Augen eine Einladung zu einem langen Spaziergang, so lang, dass er womöglich ein ganzes Leben dauern kann, dabei wollte die andere Person eventuell einfach nur nachsehen, ob die Klingel noch funktionierte.
     
    Nach einer ziemlich einschläfernden Seminarstunde hatte ich bis zum Nachmittag frei. Ich war bereit, alles auf eine Karte zu setzen, und wollte unser Wiedersehen nicht länger hinausschieben.
    Ich brauchte nicht einmal in den Laden hineinzugehen, denn Gabriela stand im Schaufenster und hängte ein Plakat auf. Da sie mir den Rücken zuwandte, konnte ich in aller Ruhe ihre Locken bewundern, die über den roten Wollpullover fielen. Ihre beigefarbenen Cordhosen ließen eine für ihre vermutlich siebenunddreißig Jahre sehr schlanke Figur erkennen.
    Als sie mich bemerkte – ich klebte beinahe mit der Nase an der Scheibe –, wirkte sie zuerst verwundert, doch dann schien sie mich zu erkennen, kletterte aus dem Schaufenster und bat mich mit einem breiten Lächeln herein.
    Sie legte die Doppel-CD von Barenboim auf die Ladentheke und fragte: »Du hast also ein Kind, das Klavier lernt?«
    »Nein. Wieso?«
    »Die ›Romanzen‹ sind Stücke für den Klavierunterricht mit Kindern.«
    »Ach wirklich?«, sagte ich beschämt.
    »Jeder Klavierschüler stolpert im Laufe seines Unterrichts über diese Stücke. Ich bin damals beim Spinnerlied hängen geblieben.«
    »Ich habe keine Kinder«, bemerkte ich etwas steif, und wie es in solchen Situationen oft der Fall ist, tat ich genau das Falsche im richtigen Moment – oder umgekehrt.
    Ohne ein Wort holte ich das Foto aus meiner Tasche und legte es auf die Theke. Gabriela warf mir einen fragenden Blick zu und schaute das Foto nicht näher an. Vermutlich fragte sie sich, warum ich ihr ein Bild von kleinen Mädchen bei der Tanzstunde zeigte, wo ich gerade erklärt hatte, dass ich keine Kinder hatte.
    Ich tippte mit dem Zeigefinger auf das Foto.
    »Das Mädchen ganz hinten in der Reihe. Weißt du, wer das ist?«
    Gabriela nahm das Foto behutsam in die Hand und aus dem leichten Befremden in ihrer Miene wurde großes Staunen. Ihre Augen schienen sogar etwas feucht.
    »Das bin ich.«

DIE KLAVIERSTUNDE
    András Schiff spielt die Gondellieder , als wären es ganz ernsthafte Stücke, als säße er in einem großen alten Konzertsaal. Sein Spiel ist langsam und schwer, mit viel Pedal, um die Schwermut zu betonen.
    Die Interpretation von Barenboim hingegen schien mir viel eher zu den Stücken zu passen. Wenn man seine ›Lieder‹ hört, sieht man gleich die kleinen Mädchen in den bürgerlichen Wohnzimmern vor sich, wie sie brav ihre Stücke üben. Fast kann man den sittsamen Lavendelgeruch ihrer Kleider riechen.
    Schiffs Gondellieder sind extrem gefühlsbetont und leidenschaftlich, jeder Takt klingt, als würde der Pianist danach zugrunde gehen. Das erste dauert zwei Minuten und 41 Sekunden, während das gleiche Stück bei Barenboim nur eine Minute und 52 Sekunden lang ist. Die Botschaft ist klar: Das wohlsituierte Mädchen, deren größter Wunsch es ist, dass die Klavierstunde endlich zu Ende gehen möge, spielt die Übung so

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