Samurai 6: Der Ring des Feuers (German Edition)
Okayama. Am Kai ankerten flache Flussboote mit viereckigen Segeln. Träger eilten mit schweren Reissäcken hin und her oder zogen dutzendweise auf wacklige Karren gestapelte Sakefässer hinter sich her. Güter aller Art wurden in die riesigen hölzernen Speicherhallen gebracht, die das Ufer säumten, während leere Boote darauf warteten, für andere Landesteile bestimmte Waren an Bord zu nehmen.
Am gegenüberliegenden Ufer ragte eine mächtige Burg auf, deren schwarze Mauern einen bedrückenden Schatten auf das Treiben warfen.
»Das ist die Krähenburg«, sagte Toge, während sie sich langsam durch die Menge schoben. »Der Wohnsitz von Daimyo Ikeda.«
Ein Fürst, der in einer so imposanten Burg residierte, dachte Jack, interessierte sich bestimmt nicht sonderlich für seine Untertanen. Und schon gar nicht für gewöhnliche Bauern.
Der Wettkampf im Bogenschießen fand auf der breiten hölzernen Plattform vor dem größten Warenspeicher statt. Am einen Ende standen sechs kleine Zielscheiben, am anderen, in einer Entfernung von etwa sechzig Metern, die teilnehmenden Samurai. Alle trugen Winterkimonos, hatten den linken Arm aber aus dem Ärmel gezogen, um ungehindert ihren Bogen spannen und zielen zu können.
Wie Vogelschwärme flogen ihre Pfeile durch die Luft, gefolgt vom krachenden Aufprall der stählernen Spitzen auf den hölzernen Scheiben. Eine Runde folgte auf die andere, ein Pfeilhagel auf den nächsten.
»In Okayama wird jedes Jahr ein Wettbewerb im Bogenschießen abgehalten«, erklärte Toge. »Es gewinnt der Schütze, der das Ziel bei hundert Schüssen am häufigsten trifft.«
Eine weitere Salve von Pfeilen donnerte über die Veranda. Einige blieben zitternd in den Scheiben stecken, andere schossen davor auf den Boden oder bohrten sich in die Wand des dahinterliegenden Speichers.
Unter den Zuschauern bemerkte Saburo eine Gruppe von jungen Samurai. »Wen sollen wir zuerst fragen?«
Jack folgte seinem Blick. Die Gruppe bestand aus Jungen und Mädchen, aber keiner von ihnen war annähernd alt genug. Er schüttelte den Kopf. »Viel zu jung.«
»Und diese beiden?«, schlug Sora vor.
Ein älterer Junge und ein Mädchen, offenbar seine Schwester, standen ganz vorne und verfolgten gebannt das Wettschießen. Jack überflog die übrigen Zuschauer. Die beiden waren die einzigen infrage kommenden Kandidaten.
»Was meinst du, Yori?«
»Ich muss sie von näher sehen«, sagte Yori, der nicht über die Schultern der vor ihm Stehenden blicken konnte.
»Folgt mir«, sagte Saburo und bahnte ihnen den Weg.
Sie waren gerade in der ersten Reihe angekommen, da stieg ein lauter Schrei aus der Menge auf. Die Bogenschützen hatten aufgehört zu schießen und die Ermittlung des Siegers begann. Erwartungsvolle Stille kehrte ein, während ein Schiedsrichter in einem weißen Gewand an den Zielscheiben entlangging und die Treffer jedes Schützen zählte.
»Zweiundfünfzig«, verkündete er. Die Zuschauer klatschten anerkennend und der erste Samurai verbeugte sich bescheiden.
»Vierundsechzig.« Die Menge applaudierte begeistert und der zweite Schütze grinste zufrieden.
»Einundzwanzig.« In das höfliche, aber halbherzige Klatschen der Menge mischte sich gut hörbar auch Gelächter. Das Gesicht des dritten Samurai war vor Scham rot angelaufen. Er brauchte den Spott der Zuschauer allerdings nicht lange zu ertragen. Als die Trefferzahl des vierten Schützen bekannt gegeben wurde, wurde es für einen kurzen Moment totenstill.
»Achtundneunzig!« , rief der Schiedsrichter. Das Erstaunen war ihm deutlich anzuhören. »Ein neuer Rekord!«
Ein traditionell in weiße Hosen und weißen Kittel gekleideter Samurai mit grimmigem Gesicht und einem dünnen Schnurrbart schrie triumphierend auf und reckte seinen Bogen in die Höhe.
»Warum nicht den?«, fragte Yori und wies mit einem Nicken auf die Plattform.
Der Schiedsrichter gab enttäuschende siebenundvierzig Punkte für den fünften Samurai bekannt.
»Du musst dich schon entscheiden, Yori«, erwiderte Saburo. »Ich dachte, wir suchen einen Samuraischüler.«
»Weiß ich doch«, entgegnete Yori, der den sechsten und letzten Schützen gemeint hatte.
Er war der einzige Junge unter den Wettkämpfern, trug einen schlichten schwarzen Kimono und hatte die Haare zu einem Knoten aufgebunden. An seinem Aussehen war nichts Ungewöhnliches, doch hatte er einen außergewöhnlich wachen, scharfen Blick. Seine Haltung hingegen war ruhig und gelassen.
Der Schiedsrichter hatte gerade die
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