Samurai 6: Der Ring des Feuers (German Edition)
Pfeile des Jungen gezählt, schien sich aber nicht sicher zu sein und zählte noch einmal nach. Die Spannung wuchs. Endlich drehte er sich um und rief: »Neunundneunzig!«
Einen Moment lang schien niemand das Ergebnis glauben zu können – vor allem nicht der Samurai mit dem dünnen Schnurrbart. Wütend starrte er auf die Zielscheibe des Gegners, als wollte er den Wald von Pfeilen aus der Ferne selbst noch einmal nachzählen. Die Zuschauer begannen erstaunt zu klatschen.
Als der erste Beifall sich gelegt hatte, trat der Schiedsrichter zu dem jungen Schützen.
»Gewonnen hat …«
»Nein, ich habe gewonnen!«, fiel der andere Samurai ihm ins Wort und wandte sich wütend an den Jungen. »Sag uns, wie alt du bist«, forderte er ihn auf.
»Fünfzehn … einhalb.«
»Dachte ich mir! Er ist noch nicht mal erwachsen.«
»Was spielt das Alter für eine Rolle?«, protestierte der Junge. »Ich habe Euch besiegt.«
Der Samurai sah aus, als würde er gleich explodieren. »Du Flegel!« Er fuchtelte mit der Faust vor dem Gesicht des Jungen herum. »Ich werde dich Anstand lehren.«
Der Junge zuckte mit keiner Wimper. »Ich stelle mich jeder Herausforderung.«
»Dann verdoppeln wir die Entfernung und stellen die Zielscheibe auf das Wasser«, schimpfte der Samurai. »Jeder hat zwei Pfeile, der beste Schütze gewinnt.«
Der Junge bekundete seine Zustimmung mit einer gelassenen Verbeugung und durch die Menge lief angesichts dieser noch nie da gewesenen Herausforderung ein aufgeregtes Tuscheln. Der Schiedsrichter befahl einem Träger, eine Zielscheibe auf ein Boot zu stellen und damit in die Mitte des Flusses hinauszurudern. Dann wurde das Stück zwischen Plattform und Kai geräumt, damit die beiden Schützen freie Sicht auf ihr Ziel hatten.
»Jetzt wird sich zeigen, wer der wahre Sieger ist«, sagte der Samurai und stellte sich für seinen ersten Schuss in Position. »Mach dich schon mal auf eine Niederlage gefasst.«
Mit geübtem Schwung hob er den Bogen, spannte die Sehne und schoss. Der Pfeil sauste in hohem Bogen durch die Luft und auf das in der Ferne schaukelnde Boot zu. Alle kniffen die Augen zusammen, um zu sehen, wo er einschlug. Noch bevor der Träger zur Bestätigung die schwarze Fahne heben konnte, war klar, dass der Samurai genau in die Mitte geschossen hatte – ein Volltreffer.
Die Zuschauer tobten vor Begeisterung – einen solchen Schuss hatten sie noch nicht erlebt.
Der Samurai straffte sich stolz und bedachte den Jungen vor seinem nächsten Schuss mit einem verächtlichen Blick. Doch das war ein Fehler. Wegen der kleinen Ablenkung kam der zweite Pfeil ein wenig vom Kurs ab. Der Träger sah ihn erschrocken kommen und sprang vom Boot in den Fluss, bevor sich der Pfeil in den hölzernen Sitz bohrte, auf dem er eben noch gesessen hatte.
Diesmal brach unter den Zuschauern Gelächter aus.
»Ich wollte nur seine Reaktion testen«, redete sich der Samurai heraus, während der durchnässte Träger wieder an Bord kletterte. Und an den Jungen gewandt fügte er hinzu: »Du kannst von Glück sagen, wenn du überhaupt das Boot triffst!«
Ohne auf den Spott des Samurai zu achten, stellte sich der Junge seitlich zum Ziel auf und bildete mit seinem Körper ein vollkommenes A. Jack kannte diese Vorbereitungen von seinem eigenen Unterricht im Bogenschießen. Es ging um die perfekte Balance, die absolute Konzentration und die Einheit von Geist, Bogen und Körper.
Mit einer einzigen, fließenden Bewegung hob er schließlich den Bogen und schoss. Wie ein Messer schnitt der Pfeil durch die kalte Luft. Die Blicke der Menge folgten ihm auf seiner Bahn zu dem sich unablässig bewegenden Ziel. Das splitternde Geräusch, das sein Einschlag verursachte, war bis zum Kai zu hören.
Kurz darauf hob der Träger mit zitternder Hand die durchnässte schwarze Fahne und rief: »Der Junge hat den Pfeil des Samurai der Länge nach gespalten!«
Wieder brach die Menge nach einem kurzen Moment ungläubigen Staunens in tosenden Beifall aus.
»Ich glaube, wir haben unseren ersten Samurai gefunden«, sagte Jack grinsend zu seinen Gefährten.
Der Junge steckte seinen zweiten Pfeil in den Köcher zurück und stieg von der Plattform herunter.
»He, wo willst du hin?«, brüllte der Samurai.
»Es gibt hier nichts mehr für mich zu tun«, antwortete der Junge.
»Komm zurück! Ich bin noch nicht mit dir fertig.«
Doch der Junge ging einfach weiter. Die Beifall klatschende Menge teilte sich, um ihn durchzulassen. Zutiefst gedemütigt,
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