Samuraisommer
der Alten nicht zeigen. Ich
hoffte, sie würde es nicht merken, wenn ich sprach. Aber so blöd war ich auch
nicht, dass ich nicht kapierte, dass es auch eine ganz andere Tüte sein könnte.
Die Alte konnte sie kurz vor dem Verhör gekauft haben.
„Es war ein Irrtum“, sagte sie jetzt und nickte zur Tüte. „Sie ist in
einer Schublade gelandet, die wir für leer hielten.“
Leer. Derjenige, der die Tüte in die Schublade gelegt hatte, muss doch
gesehen haben, dass sie nicht leer war, jemand muss gewusst haben, dass sie
dort war.
Die Alte streckte die Hand aus und tippte gegen die Tüte, als hätte
ich noch nicht bemerkt, dass sie da lag.
„Du hast also Recht gehabt, Kenny.“
Aha. Und was erwartete sie jetzt von mir? Sollte ich sagen, dass ich
ihr und den Betreuerinnen und der Köchin und dem ganzen Camp verzeihe? Dass ich
Weine verzeihe? Dass ich Vater und Mutter und dem ganzen Land und der ganzen
Welt verzeihe?
„Nimm sie“, sagte die Alte.
Ich hatte verstanden, was sie gesagt hatte, sah aber offenbar so aus,
als hätte ich sie nicht verstanden. Mein Gesicht war vermutlich so lang wie das
eines Lamas.
„Du kannst deine Schokoladenbonbons haben“, wiederholte sie, „du
kannst sie mitnehmen.“
Himmel. So was war noch nie passiert. Diese Neuigkeit sollte auf der
ganzen Welt verkündet werden. Ein Junge mit einer Tüte voller
Schokoladenbonbons in einem Gefängnis-Camp! Eine ganze Tüte für ihn allein!
Aber ich wusste, dass es ein Köder war. Eine Bestechung. Die Alte
wollte eine Art Pakt mit mir schließen. Die Tüte war nicht gratis. Die musste
später doppelt bezahlt werden, oder dreifach, oder noch teurer.
„Dann sind wir also Freunde?“
Ich nickte. Das war am klügsten so.
„Und in Zukunft helfen wir einander?“
Wieder nickte ich. Ich wusste nicht, wie sie mir helfen könnte oder
ich ihr, aber das spielte im Augenblick keine Rolle.
„Nimm jetzt deine Tüte“, sagte sie und lächelte, als hätte sie die
beste Tat der Welt vollbracht und gleichzeitig den besten Fang des Sommers
gemacht.
Die Krieger hatten in meiner Abwesenheit weiter an der inneren
Steinmauer gebaut. Dazu waren viele Steine nötig. Die drei Mauern um das
Schloss Himeji, das 1609 gebaut wurde, hatten zum Beispiel eine Oberfläche von
über hunderttausend Quadratmetern.
So groß sollten unsere Mauern nicht werden, aber groß genug. Wir
bauten ohne Mörtel, genau wie in Japan. Das war am besten, da sich jeder Stein
auf diese Weise ein wenig bewegen konnte, ohne dass im ganzen Bau Risse entstanden.
Über der Mauer flatterte die Fahne mit unserem Wappen. Es war ein
schwarzer Kreis auf weißem Grund. Durch den Kreis zogen sich zwei schwarze
Linien, die genauso dick wie der Kreis waren. Wir wollten mehrere kleinere
Fahnen machen, lange und schmale. Die kleineren heißen Nobori und sollten im
großen Kampf getragen werden. In einer großen Samuraiarmee hatte man an die
zwanzig Fahnenträger. Es war eine gefährliche Aufgabe, da sie sich immer in
der Nähe des Befehlshabers aufhalten mussten, und dort tobte der Kampf am heißesten.
Die Fahne war immer auf dem Rücken befestigt. Wir wollten Halter dafür an
unsere Harnische nähen. Wenn die Harnische erst einmal fertig waren. Wenn wir
alles beisammen hatten, den Brustschutz, die Seitenteile und das Rückenteil.
Wir versuchten an Hartfaserplatten oder Sperrholz zu kommen, um daraus die
Teile herzustellen. Am liebsten wäre uns Sperrholz. Eine gute Ausrüstung konnte
das Leben eines Samurai retten.
Ich versteckte die Schokoladenbonbons unter einem der Ecksteine der
inneren Steinmauer. Niemand hatte die Tüte gesehen, ich hatte sie unter dem
Hemd und dem Schwert versteckt. Ehe ich den anderen etwas von dem Gespräch mit
der Alten erzählte, musste ich noch ein bisschen nachdenken. Ich wusste nicht,
was ich mit der Tüte machen sollte. Als ich durch den Wald ging, bereute ich
es, sie angenommen zu haben. Aber ich hatte ja keine andere Wahl gehabt.
„Du warst lange weg“, sagte Micke.
„Ihr seid weit gekommen mit der Mauer“, antwortete ich.
„Was hast du gemacht?“
„Nichts.“
„Nichts? In fast zwei Stunden?“
Klops und Janne kamen auf die Lichtung. Sie schleppten mittelgroße
Steine und ließen sie neben der Mauer fallen, die an einigen Stellen schon
einen Meter hoch war.
„Wir sollen keine Geheimnisse voreinander haben“, sagte Micke.
„Was denn für Geheimnisse?“ Klops hatte sich neben uns gestellt.
„Nichts.“
„Du hast so komisch
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