San Miguel: Roman (German Edition)
wovon niemand etwas wusste, nicht einmal Ida, die ihr den Umschlag gegeben hatte, war das Armband ihrer Mutter. Edith hatte es in Seidenpapier gewickelt und in ihrer Handtasche verstaut. Lange lag sie da und lauschte auf die Geräusche des Hauses, dann stand sie auf und zog sich im Dunkeln an.
Den Koffer würde sie zurücklassen, er wäre ihr nur hinderlich. Sie musste hinaus, auf die Straße, und sich irgendwo verstecken, bis der Pfandleiher sein Geschäft öffnete, und dann würde sie ihm das Armband ihrer Mutter geben und das Geld nehmen. Und dann? Dann würde sie laufen, auf der Straße, die über den San-Marcos-Pass zur Cold Spring Tavern führte, und dort würde sie in die Postkutsche nach Norden steigen, und sollten ihr auf der Straße Fuhrwerke, Pferdegespanne oder Reiter begegnen, dann würde sie sich im Gebüsch verstecken, bis sie vorbei waren. Es würde ein langer Marsch werden, fünfzehn oder zwanzig Kilometer bergauf, doch das schreckte sie nicht – auf der Insel hatte sie kaum etwas anderes getan als zu laufen.
Im Haus war es so dunkel wie in einem Schrank, Fenster und Vorhänge waren geschlossen. Vorsichtig ging sie durch den Flur und die Treppe hinunter. Vor ihren Augen schwebten Pünktchen in willkürlichen Mustern, sie strengte sich an, etwas zu sehen, sah aber gar nichts. Sie hörte ein Rascheln, ein Stöhnen, das leise Murmeln einer der alten Frauen, die hinter einer unsichtbaren Tür in ihrem Bett lag und schnarchte. Mit winzigen Schritten und immer in der Angst, sie könnte an einen Stuhl oder Tisch stoßen und sich verraten, tastete sie sich wie eine Blinde an der getäfelten Wand entlang. Ihre Finger berührten etwas – Holz, Stoff, den Garderobenständer? –, und dann hatte sie endlich die Tür erreicht. Sie fand den Türknauf und drehte ihn, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Der Riegel, wo war der Riegel? Sie strich mit der Hand über das glatte Holz und suchte den Riegel, doch es gab keinen Riegel, nur ein Schlüsselloch, und darin steckte kein Schlüssel. Sie war gerade dabei, diese Information zu verarbeiten – hatte die Vermieterin sie tatsächlich allesamt eingeschlossen? Was, wenn ein Feuer ausbrach? Wenn es ein Erdbeben gab? Es musste eine Hintertür geben, und die konnte nicht ebenfalls verschlossen sein, oder? –, als sie hinter sich ein Geräusch vernahm und es mit einemmal heller wurde.
Mrs. Cawthorne stand barfuß, im Nachthemd und mit einer Kerze im Zinnteller in der Hand, am Rand des Teppichs und sah sie ausdruckslos an. »Was ist hier los? Wer ist da?« wollte sie wissen.
Sie war eine sehr dicke Frau, dick und faul und alt, und Edith spürte Verachtung in sich aufwallen. Sie blieb stumm.
Die Kerze flackerte, als die Vermieterin einen Schritt näher trat. In ihrem feisten Gesicht waren die Augen kaum zu erkennen. »Ist das nicht mein neuer Gast? Edith?«
»Ja. Ich wollte ein Glas Wasser trinken. Ich hatte Durst.«
Die Wirtin sah sie ein paar Sekunden lang mit zusammengekniffenen Augen an, ihr schwerer, pfeifender Atem kratzte an der Stille, die über dem schlafenden Haus lag. Dann sagte sie: »Auf dem Tisch in Ihrem Zimmer stehen ein Krug Wasser und ein Glas.« Wieder Stille. »Gleich neben der Lampe.«
In den folgenden drei Tagen führte ihr Stiefvater sie genau einmal zum Essen aus, in ein billiges Restaurant, wo Männer mit gezwirbelten Schnurrbärten und schlechten Zähnen auf irgend etwas herumkauten und es nach saurer Milch und Chilibohnen roch. Er ging mit ihr in zwei Geschäfte, wo sie Toilettenartikel und Stoff für ein neues Kleid kauften, das die alten, inzwischen geradezu peinlich fadenscheinigen Kleider ersetzen sollte, und selbstverständlich bestellten sie bei einem Lebensmittelhändler neue Vorräte – noch mehr Säcke voller Reis, Mehl und Bohnen. Sie stand an der Theke und unterdrückte einen Schrei, und jeder Sack, den der Gehilfe auf seiner Liste abhakte, war ein weiteres Gewicht, das sie in die Tiefe zog, ein weiteres Glied in der Kette, die sie hinter sich herzerren musste wie ein Gespenst – mitten im Leben und doch tot.
Sie war auf ihrem Zimmer und schmiedete verzweifelt Pläne, als ihr Stiefvater kam, um mit ihr zum Schiff zu gehen. Sie hatte niemanden besucht und nichts gesehen, und nun sollte sie wieder zurückfahren. Es war nicht gerecht. Es war verbrecherisch. Eine Beleidigung. Hatte Lincoln nicht die Sklaven befreit? Hieß dieses Land nicht Amerika? Drei Tage hatte sie auf eine Gelegenheit gelauert und sogar den Abstand
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