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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Meer.
    Sie erhob sich mühsam. Sie hatte zugenommen, und das zusätzliche Gewicht machte sie unbeholfen. »Was?« fragte sie, beschattete mit der Hand die Augen und folgte seinem Blick über das gleißende Wasser. »Was ist denn da?«
    »Da! Siehst du’s nicht?«
    Dort draußen war etwas, etwas Glattes, Gleitendes, das sich rollend und schwarz schimmernd über die Wasseroberfläche erhob. Es glänzte wie ein schwarzes Öltuch, das durchs Wasser gezogen wurde. »Was ist das? Eine Schildkröte?«
    »Ein Orca, ein Killerwal. Der, von dem ich dir erzählt habe, der den Robben nachgestellt hat, der sie gefressen hat, meine ich. Ein Biss, und das ganze Wasser ist rot, und die Robbe sieht aus wie ein Knochen im Maul eines Hundes. Aber ist bei dir alles in Ordnung? Ich meine, kannst du hierbleiben, während ich zum Haus laufe und das Gewehr hole?«
    »Gewehr? Was für ein Gewehr?«
    »Das Harpunengewehr natürlich.«
    Dies war ein neues Gewehr, der Sammlung erst kürzlich hinzugefügt dank der Großzügigkeit von Hugh Rockwell, der es als eine Art Trostpreis durch die Hermes hatte überbringen lassen, nachdem er den Kredit, mit dem Herbie seinem Freund Bob den Pachtvertrag hatte abkaufen wollen, ständig verzögert hatte. Es war Herbies neuester Schatz, ein Ding aus schimmerndem Messing, das, hätte nicht ein mit Widerhaken versehener Speer im Lauf gesteckt, ebensogut ein Musikinstrument hätte sein können.
    »Du willst das Tier doch wohl nicht schießen, oder?« Sie sah zu der Stelle, wo ihr einziges Boot – ein Ruderboot – lag, und zu dem Schuppen, den Brooks gebaut hatte, um die Wollsäcke bis zur Verschiffung zu lagern.
    »Natürlich will ich das«, sagte er und setzte sich bereits in Bewegung.
    »Aber warum?«
    Seine Schultern zuckten, seine Füße konnten nicht stillstehen – er war furchtbar aufgeregt. »Wir können doch nicht zulassen, dass dieses Biest unsere Robben umbringt.«
    »Warum nicht? Es gibt Tausende davon – und wir haben doch sowieso nichts mit ihnen zu tun. Du hast doch nicht etwa vor, Robbenjäger zu werden?«
    Ihr Versuch, das Ganze ins Witzige zu ziehen, schlug fehl: Er hörte nicht mal zu.
    »Es ist ein Killerwal«, sagte er. »Und ich habe noch nie – « Er sprach den Satz nicht zu Ende, drehte sich um und rannte über den Strand zum Weg, und dort wurde er nicht langsamer, sondern beugte sich vor und rannte, als wäre dies ein 100 -Meter-Lauf – nur dass es eher ein Zweieinhalb-Kilometer-Lauf war. Und zwar bergauf. Sie rief mit hoher, dünner Stimme seinen Namen, doch es war zwecklos: Er war bereits fort.
    Sie wusste nicht, ob sie bleiben oder ihm folgen sollte, entschloss sich dann aber zu bleiben, in der Hoffnung, ihn abzufangen, wenn er zurückkehrte, und ihm die Sache auszureden, und eine halbe Stunde später war er wieder da und rannte über den Strand. Er hatte das Harpunengewehr über die Schulter gehängt, und seine gelbe Öljacke flatterte im Wind. Sie saß auf der zusammengefalteten Decke im Windschatten eines Felsens und beobachtete den Weg; die Reste vom Picknick hatte sie wieder in den Korb gepackt. Sobald sie ihn sah, sprang sie auf und winkte, doch er rannte einfach an ihr vorbei, als wäre sie gar nicht vorhanden. Als sie das Boot erreichte, hatte er es bereits an der Fangleine zum Wasser gezerrt und schob es, bis zur Taille durchnässt, in die schäumende Brandung. Er schwang sich über das Heck an Bord und packte, während eine Welle das Boot erfasste, die Ruder. Die Ruderblätter tauchten ein, und er manövrierte das Boot durch die nächste Welle. Der Wind wehte Sand in Elises Gesicht – sie musste den Kopf abwenden und mit der Hand die Augen schützen. Als sie den Blick hob, war er schon hundert Meter vom Strand entfernt, umgeben von weißen Schaumkronen. Der Wind peitschte sein Haar.
    Lange beobachtete sie ihn, ging den Strand und schließlich ein Stück den Weg hinauf, um ihn sehen zu können. Im blendenden Schimmer des Meers war das Boot kaum zu erkennen. Bald war es nur noch ein Pünktchen, weit jenseits von Can Rock, Middle Rock und der gewaltigen bleichen, keilförmig aufragenden Prince Island, die so dick mit Guano überzogen war, dass man, wüsste man es nicht besser, meinen könnte, dort liege Schnee. Sie fror. Sie fand ein windgeschütztes Fleckchen, hüllte sich in die Decke, säuberte ein Stück Erde und setzte sich, an einen Felsen gelehnt, hin. Sie fragte sich, ob sie zum Haus gehen und ihren Mantel und das Fernglas holen sollte. Das Fernglas wäre

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