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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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spindeldürr – seine Schulterblätter zeichneten sich unter dem Rollkragenpullover ab wie ein Kleiderbügel –, und sein Haar war knapp links der Mitte gescheitelt und mit Pomade frisiert, so dass es am Schädel anlag. Seine Kleider – der Pullover, eine dunkle Wollhose, Tennisschuhe mit Troddeln – waren teuer, und er hatte einen strengen, durchdringenden Blick, so dass sie für einen Augenblick dachte, er könnte vielleicht Arzt sein. Wäre das nicht was: ein Arzt, der auf den Flügeln des Sturms zu ihnen kam wie ein barmherziger Engel? Doch er war kein Arzt, sondern Bankier, Präsident und Vorstandsvorsitzender der Ventura Savings and Loan, einer der wenigen Banken, welche die Wirtschaftskrise überlebt hatten. Aber er war hier. Und er hatte ein Boot.
    Herbie – und das machte ihr wirklich angst – war nicht imstande zu antworten. Er hob mit leerem Blick den Kopf und nickte.
    »Es ist seine Verwundung«, hörte sie sich sagen. »Aus dem Krieg. Ein Granatsplitter, sagt er. Er drückt auf irgendwas dadrinnen. Ich habe Blut gefunden.« Sie wandte den Blick ab. »Auf der Toilette.«
    »Können Sie gehen?« fragte der Mann. »Schaffen Sie es hinunter zum Boot?«
    »Ich kann« – Herbie stöhnte – »sie nicht allein lassen.«
    »Wir nehmen Ihre Frau mit, es ist genug Platz. Kein Problem. Und ich werde Ihnen hinunter zum Strand helfen. Und Margot auch, wir werden beide helfen. Keine Sorge.«
    Herbie schüttelte den Kopf. »Die Tiere«, sagte, nein, krächzte er, seine Stimme klang dünn und gebrochen. »Jemand muss hierbleiben.«
    Schließlich wurde beschlossen, dass Margot bei Elise bleiben würde, während Dick mit Herbie zum Festland fuhr, und beide versicherten, alles werde gut werden, die Medizin habe ja enorme Fortschritte gemacht, und Dick werde Herbie zu seinem Arzt bringen, dem besten an der ganzen Westküste, und der werde ihn im Handumdrehen gesund machen, ganz bestimmt.
    Der erste Abend kam, und Margot, ihre bloße Anwesenheit, war ein Geschenk des Himmels. Elise konnte ihr gar nicht genug dafür danken. Sie machte ihr das Bett in Jimmies Zimmer, und dann setzten sie sich an den Kamin, plauderten über Kleinigkeiten und Banalitäten, über das Wetter, Boote und Moden, über Filme und das Leben in Ventura und in Los Angeles, und vermieden es, eine Stille eintreten zu lassen, denn sie fürchteten, sie könnten den Boden unter den Füßen verlieren, wenn sie auch nur einen Augenblick darüber nachdachten, wer sie waren und was sie taten: Fremde, die in einer Notsituation aufeinander angewiesen waren, als wären sie Schiffbrüchige, die sich an irgendwelche Wrackteile klammerten. Am nächsten Morgen verbrachte Margot lange Zeit im Badezimmer, und als sie herauskam, trug sie Make-up, ihre Augenbrauen waren perfekt gezupft und mit einem dunklen Stift nachgezogen, die Lippen leuchteten rot wie die eines Vamps, und das blonde Haar schimmerte. Sie setzte sich in die Küche, machte ein verlegenes Gesicht und wollte nichts anderes als Kaffee. Den ganzen Tag über hielten sie nach dem Boot Ausschau, doch das Boot kam nicht. Elise versuchte, heiter zu sein, und bot ihrem Gast an, einen Ausflug zum Strand oder hinauf nach Harris Point zu machen, wo die Aussicht so schön war, doch Margot sagte, sie fühle sich nicht gut – sie habe kein Auge zugetan, wegen des fremden Betts, das sei bei ihr immer so, sie könne es nicht erklären. »Sogar auf dem Boot – « setzte sie an, besann sich aber.
    Im Lauf des Tages spürte Elise die Gezwungenheit zwischen ihnen, eine übertriebene Höflichkeit, die nach und nach peinlich wurde, als wüssten sie eigentlich nicht, worüber sie reden sollten. Es war offensichtlich, dass Margot sich langweilte, dass sie unruhig war und es bereute, vorschnell oder aus Altruismus oder irgendwelchen anderen Gründen angeboten zu haben, bei Elise zu bleiben. Was bloß bewirkte, dass Elise sich schuldig und unfähig fühlte – und dumm, das auch. Konnte man zwei Pferde und ein paar Schafe wirklich nicht ein, zwei Tage allein lassen? Und das Haus – wie sah Margot wohl das Haus mit dem primitiven Mobiliar, den Gewehren an der Wand und dem Herd aus dem vergangenen Jahrhundert? Und die größere Frage, die zu stellen ihr Gast zu taktvoll war, lautete: Wie konnte sie so nur leben? Wie konnte irgend jemand so leben?
    Als sich am zweiten Abend die Nacht allmählich über das Meer zu senken begann und ihnen beiden klar wurde, dass die Bon Temps nicht kommen würde, machte Margot ein grimmiges,

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