San Miguel: Roman (German Edition)
die Erinnerung daran mit dem feinen, blumigen Aroma des weichsten, reifsten, ätherischsten Whiskeys verbunden war, den sie je getrunken hatte, dann war das nicht das Schlechteste. Das alles war ein Geschenk – Manna, Manna vom Himmel. »Kein Zweifel diesmal«, sagte sie. »Diesmal brauche ich keinen Thornton und keinen Arzt.«
Er sagte sehr lange nichts, sondern sah ihr nur quer durch den ganzen Raum in die Augen, als könnte er sie berühren. »Langsam kriegen wir regelrecht Übung, was?« sagte er schließlich und lachte laut. »Aber ich bin der größte Glückspilz auf der Welt. Der glücklichste Glückspilz.« Dann stand er auf, setzte sich neben sie auf das Sofa und schlang die Arme um sie. »Herbie junior«, sagte er und hob den Blick zur Decke, »wo bist du nur mein ganzes Leben lang gewesen?
Aber halt, Moment mal«, sagte er plötzlich, sprang auf und stürzte zum Bücherregal, wo er eine der Vanille-Extrakt-Flaschen mit Kentucky Bourbon hinter einem Buch versteckt hatte. Sie sah, wie er es herauszog – es war Eine amerikanische Tragödie – und nach der Flasche tastete.
»Warum Dreiser?« fragte sie und genoss den Augenblick.
Er wandte sich zu ihr, lächelnd, die Flasche in der Hand. »Weil der Mann weiß, was Kummer ist und dass Whiskey Kummer heilt«, sagte er, wie stets um keine Antwort verlegen. »Der alte Theodore, der alte Ted würde bei einem solchen Anlass bestimmt einen Bourbon trinken, meinst du nicht?« Er entkorkte die Flasche und schnupperte daran. »Auch wenn er ein ganz kleines bisschen nach Vanille riecht. Aber wenigstens haben wir diesmal etwas« – er hob die Flasche hoch wie eine Trophäe, was sie ja auch war –, »mit dem wir auf das Baby anstoßen können.«
Zwei Gläser. Zwei Fingerbreit für sie, drei Fingerbreit für ihn. Er beugte sich über das Sofa, reichte ihr das Glas und stieß mit ihr an. »Auf Herbie junior!« rief er und trank es in einem Zug aus.
Sie nippte nur und genoss den Geschmack des Whiskeys, während Herbie sich nachschenkte, und wenn sie überhaupt etwas dachte, dann dies: Wo das herkommt, gibt’s noch jede Menge davon.
DER TRAVEL-AIR-DOPPELDECKER
Elizabeth Edith Lester kam im Dezember zur Welt und war ein hübsches, kompaktes Baby mit den Augen seines Vaters und der Stupsnase seiner Großmutter Sherman. Diesmal hatte Elise ihren Mann überredet, sie erst zum Festland zu bringen, als sie schon weit im achten Monat war, und dort angekommen ging sie nicht zu den Whites und blieb nur ganz kurz in Bob Brooks’ Haus. Sie war immer äußerst freundlich zu den Fischern und Ausflüglern gewesen, die nach San Miguel gekommen waren – das war bei ihr eigentlich wie ein Reflex, es entsprach ihrem Wesen und verriet eine innere Großzügigkeit, die sie allen Menschen, auch Japanern, entgegenbrachte –, und nun stellte sie fest, dass ihre Gastfreundlichkeit mit einem halben Dutzend oder mehr Einladungen erwidert wurde. So brauchte sie keine Wohnung zu mieten oder sich Sorgen zu machen, sie könnte entfernten Verwandten, die ihr eigenes Leben hatten, zur Last fallen. Diesmal ging sie mit Marianne dorthin, wo man sich über ihr Kommen freute, zog von einer Familie zur anderen und verbrachte bei jeder ein oder zwei Wochen. Diese Besuche belebten sie und bezogen sie wieder ein in den Gang der Dinge auf dem Festland: die Radiosendungen und Tageszeitungen, den Klatsch und Tratsch und die ernsthaften Diskussionen über die Faschisten in Italien und den drohenden Bürgerkrieg in Spanien, und obwohl Herbie und Weihnachten auf San Miguel ihr fehlten und sie nur zu gern dorthin zurückkehrte, sobald das Baby das vorgeschriebene Gewicht von neun Pfund erreicht hatte, kam ihr diese Zeit nicht annähernd so endlos vor wie beim erstenmal.
Herbie schloss die Kleine – sie nannten sie einfach nur Betsy – ebenso ins Herz wie Marianne. Wenn er enttäuscht war, dass ihm ein Sohn erneut versagt geblieben war, so ließ er es sich nicht anmerken. Als Betsy den Finger, den er ihr hinhielt, umklammerte und ihn anlächelte, war es, nicht anders als damals bei Marianne, um ihn geschehen – er war ein guter Vater, zuverlässig, liebevoll und geduldig. Die Tage gingen dahin. Der Himmel wölbte sich hoch und senkte sich herab, der Regen kam und ging, der Wind wehte aus Norden. Sie wärmte Milchfläschchen auf dem Herd und hängte Windeln zum Trocknen auf. Sie kochte und putzte und sorgte für ihre Töchter und ihren Mann. Dies war das Leben, keine Mühsal, nein, keineswegs – es war
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