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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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schütten alles in sich rein –, sondern auch an unseren Rancharbeiter, denn wenn man ihm den Alkohol nicht rationiert, trinkt er bis zum Umfallen. Sie wissen ja, wie Arbeiter sind.«
    Das sagte er zu Hammond, der bloß lächelnd nickte. Wie sie später feststellten, hatte George Hammond keine Ahnung von Arbeitern, ganz gleich, welcher Art. Personal kannte er, ja. Er hatte einen japanischen Gärtner und einen Chauffeur. Aber er war kein Rancher, sondern einfach reich und lebte mit seiner Frau und seiner Mutter auf deren Anwesen am Meer, östlich von Santa Barbara, wo er einen eigenen Flugplatz hatte anlegen lassen. Er kannte nur eine einzige Leidenschaft, und das war das Fliegen.
    »Erzählen Sie mir von Ihrem Flugzeug«, sagte Herbie. »Das ist ja eine richtige Schönheit.«
    »Danke. Mir gefällt die Maschine auch, aber eigentlich suche ich nach etwas, was mehr Wumm hat, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wie lange haben wir gebraucht, John? Etwas über vierzig Minuten, glaube ich. Das geht auch schneller.«
    »Es ist eine Travel Air, stimmt’s?« Herbie hatte einen Hocker geholt und zum Sofa gestellt. Sie saß ihm gegenüber auf dem Sessel, hatte Betsy auf dem Arm und sah es kommen, dass Nebel aufzog und ihre Gäste die Nacht – oder gar zwei, drei Nächte – unter ihrem Dach verbringen mussten, aber das war ja nur um so besser. Marianne krabbelte auf dem Boden herum und schlug, so aufgeregt über den Besuch wie ihre Eltern, ihre Alphabetklötze gegeneinander, bis Herbie sich zu ihr beugte und ihr sagte, sie solle damit aufhören.
    »Stimmt«, sagte Hammond. » 220 PS , und das ist ja nicht schlecht, verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich habe ein Auge auf was Größeres geworfen, eine Cabin Waco oder vielleicht sogar eine von diesen neuen Beechcrafts. Kennen Sie die?«
    Nein, die kannte Herbie nicht. Aber er war ganz Ohr, und sie wusste, was er dachte: Vierzig Minuten zum Festland, und das war zu langsam? Mit einem Flugzeug hätten sie Zugang zur Welt und bräuchten nicht mehr auf den Viehfrachter, die Küstenwache, ein Fischerboot oder Bob Brooks zu warten, der ihnen, wenn sie Glück hatten, einmal im Monat Lebensmittel bringen ließ. Sie würden ein paar Dinge haben können, die es in der Welt da draußen gab, Dinge, auf die sie bisher verzichtet hatten und die das Leben leichter machten. Ein Grammophon. Ein Radio. Einen Stromgenerator. Travel-Air-Doppeldecker. Cabin Waco. Beechcraft . Sie wiederholte in Gedanken diese exotischen Namen, als wären sie eine Beschwörungsformel, auch wenn sie gar nicht wusste, was sie sich eigentlich wünschte.
    Tatsächlich kam am Nachmittag Nebel auf. Die Sonne war im Handumdrehen verschwunden, die Hügel und die Bucht wurden verschluckt, so dass man gar nicht mehr wusste, ob man auf einer Insel war oder nicht – sie hätten an einem beliebigen Ort sein können, auf einem Feld in Nebraska, auf einem Berggipfel in Tibet, auf der Fifth Avenue, wo alle Stecker gezogen und aller Verkehr auf den Mond verbannt war. Alles war in wattiges Grau gepackt, und der Nebel war so dicht, dass man das Flugzeug von der Haustür aus nicht mehr sehen konnte. Mit dem Nebel kam die Stille, alle Geräusche waren gedämpft, und vor den Fenstern rührte sich nichts. Die ganze Welt war auf den Raum zusammengeschrumpft, in dem sie saßen. Als Hammond – George – erkannte, dass sie frühestens am nächsten Morgen würden starten können, gab er seine Zurückhaltung auf. Er probierte Herbies Whiskey und unterhielt sie mit Gesellschaftsklatsch aus Santa Barbara und Los Angeles, und John Jeffries hatte ebenfalls Geschichten zu erzählen. Herbie beugte sich vor, unterbrach sie, bat um Ausführungen und Erläuterungen und sprang von einem Thema zum anderen. Sie hatte ihn noch nie glücklicher gesehen. Den Lammeintopf aßen sie am Küchentisch. Marianne schlief in ihren Armen ein. Und nach dem Essen, als nicht zu leugnen war, dass es deutlich kühler geworden war, machte Herbie ein Feuer im Kamin, und sie saßen zu viert davor und unterhielten sich, bis das Grau immer dunkler wurde und sich schließlich in eine sternlose Nacht verwandelte.

WEIHNACHTEN
    In jenem Jahr war das Weihnachtsfest wie ein Wunder. Zum erstenmal hatten sie einen Baum, den ersten Weihnachtsbaum, den die Mädchen zu sehen bekamen, geschmückt mit Popcorngirlanden und Figuren aus bunter Pappe und gekrönt von einem Engel aus Stanniolpapier, und es gab sogar gekaufte Geschenke und Versandhausartikel. Der Baum war zwar zerrupft,

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