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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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weniger als ein vergrabener Schatz. Um die Jahrhundertwende war dort ein Schiff mit einer Fracht aus Mehl, Zucker, Kentucky Bourbon und einigen anderen Dingen an den Felsen zerschellt. Wochenlang waren Säcke voller Mehl angeschwemmt worden, Mehl, das die Russells, die damals die Verwalter gewesen waren, hatten bergen können – sie hatten es jahrelang verwendet, auch wenn es ungewöhnlich salzig geschmeckt haben musste –, doch die Whiskeyfässer waren anscheinend allesamt verlorengegangen. Jimmie hatte die Geschichte schon zwanzigmal bei Tisch erzählt und Herbie mit dem Hinweis gequält, dass ein paar der Fässer bestimmt angespült und vom ständig in Bewegung befindlichen Sand begraben worden seien – und Tatsache war, dass nach einem Sturm oder bei besonders niedriger Ebbe alle möglichen Dinge zum Vorschein kamen, zum Beispiel der Mast des alten Segelschiffs, den Herbie erst vergangene Woche ausgegraben und als Fahnenmast auf dem Hof aufgestellt hatte. Er hatte am Morgen einen seiner Strandgänge gemacht und dabei im Sand eine winzige Erhebung bemerkt. Mit zunehmender Erregung hatte er gegraben und ein Fässchen freigelegt – nein, kein Fässchen, sondern eher ein Fass, wie man es für Wein oder Hochprozentiges verwendete, zu groß, um es ganz auszugraben. Er hatte gewühlt, gestochert und den Sand weggewischt, bis er die in den mit Dauben versehenen Bauch gebrannte Aufschrift hatte entziffern können: Kentucky Bourbon 43% .
    »Natürlich hab ich das Ding abgeklopft«, sagte er, als sie über das Plateau gingen. Flaschen, Schlauch und Bohrer waren in dem Korb an seinem Arm verstaut. »Ich mache mir große Hoffnungen, aber es kann natürlich sein, dass bloß noch Meerwasser drin ist.«
    Sie war außer Atem, denn sie hatte Marianne auf dem Arm und versuchte, mit Herbie Schritt zu halten, der ein Tempo vorlegte, als könnten die Wellen das Fass nach mehr als dreißig Jahren doch noch hinaus ins Meer spülen. »Man kann nie wissen«, sagte sie schnaufend, »vielleicht haben wir ja Glück.«
    Es war eine steile Kletterpartie. Herbie eilte voraus und kam wieder zurück, um ihr zu helfen, aber schließlich hatten sie den Strand erreicht, und sie setzte Marianne ab, damit sie auf eigenen Beinen und in ihrem eigenen Tempo gehen konnte – und das war der Punkt, an dem Herbie endgültig die Geduld verlor und voraustrabte, bis er nur noch eine verschwommene senkrechte Linie vor der glatten Fläche des Strandes und der welligen Weite des Meers war. Nebel kam auf. Es roch nach toten Dingen. Sie versuchte, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, und zog an Mariannes Hand, wenn die eine Muschel oder einen Seestern aufheben wollte, doch nach und nach verschwand er im Wabern des Nebels: Herbie der Sprunghafte, Herbie das Trugbild.
    Indem sie sich einfach links des Meers und rechts der Dünen hielt, holte sie ihn schließlich ein. Er kniete auf dem nassen Strand und drehte den Bohrer in ein Stück Holz, das aus dem Sand ragte. Sie sah die Späne, die sich spiralförmig ringelten, und dann war da ein kleines schwarzes Loch, nicht größer als ihr kleiner Finger, in dem nassen Holz, bei dem es sich, wie sie jetzt erkannte, um den Rand eines Fasses handelte – wie Herbie es entdeckt hatte, war ihr ein Rätsel. Es ragte nur ein paar Zentimeter über den Sand und würde mit der nächsten Flut wieder zugedeckt werden. Nasses Holz. Ein matter Schimmer. Es sah kein bisschen anders aus als das andere Strandgut, das hier herumlag.
    Mit zitternden Händen schob er den Schlauch durch das Loch in die Tiefe des Fasses. Bevor er das Ende in den Mund nahm, sah er sie an und sagte: »Na dann. Wir haben hier entweder was ganz Besonderes – dreißig Jahre im Fass gelagert, VSOP , kannst du dir das vorstellen? – oder bloß mehr von dem da.« Er wies auf die gegen den Strand brandenden Wellen und das Wasser, das sich bis zum Horizont erstreckte. Dann schloss er die Augen, nahm den Schlauch in den Mund und saugte.
    Sie sah ihn schlucken und noch einmal schlucken, doch er ließ den Schlauch nicht los, und seine Augen blieben geschlossen. »Und?« sagte sie. »Wenn’s Salzwasser ist, müsstest du inzwischen eigentlich genug haben.«
    Und da riss er die Augen auf, und in seinem Blick lag Glückseligkeit. »Probier selbst und sag mir, was du davon hältst.«
    Vielleicht an diesem Abend oder am nächsten, vielleicht aber auch erst eine Woche später sagte sie ihm, sie sei wieder schwanger. Sie wusste nur, es war irgendwann in dieser Zeit, und wenn

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