San Miguel: Roman (German Edition)
gesehen hab. Und wenn Dorothy erst erwachsen war und ihr Erbe antreten konnte, würde sie noch viel mehr Geld bekommen.
Aber Edith war gerissen, eine richtige Geschäftsfrau. Als der Captain 1917 starb, verklagte sie die Erben – den Bruder des Captain und seinen Sohn aus erster Ehe – auf das Geld, das ihre Mutter ihr hinterlassen hatte, und ihren Teil der Ranch und gewann.« Er zündete die Zigarette an, zog daran und blies den Rauch aus. »Edith. Wussten Sie, dass sie dreimal geheiratet hat? Und jede Ehe wurde geschieden. Ich weiß ihre Namen auswendig: Edith Waters Walker Basford Burritt. Und natürlich den, unter dem sie berühmt geworden ist: Inez Deane.«
»Lebt sie noch?«
Er hielt die Zigarette zwischen den Lippen und hob den Kaffeebecher an den Mund. Die Augen hatte er gegen den Rauch zusammengekniffen. »Soviel ich gehört hab, lebt sie irgendwo in British Columbia, in Victoria, glaube ich, und hockt auf einem Haufen Geld. Aber ihre Tochter ist tot. Dorothy. Ist keine Zwanzig geworden.«
»Aber sie ist doch nicht ... ich meine, da ist doch nichts gewesen, oder? Irgendwelche Unregelmäßigkeiten?«
»Nein«, sagte er und sah streng zu ihr auf. »So war Edith nicht. Als sie ihre Tochter zurückhatte, hat sie sie aufgezogen wie jede andere Mutter, wie Sie Ihre Tochter aufziehen. Nein, Dorothy ist an der Grippe gestorben.«
Für einen Augenblick saßen sie schweigend da und dachten über die Flucht der einen und den Tod einer anderen Tochter nach, über das Leben und die Insel und den schmaler werdenden Pfad, auf dem sie, wie alles, was lebte, unterwegs waren, und dann stemmte Jimmie sich mit einem Seufzer hoch. »Ich glaube, ich werde dann mal ins Bett gehen«, sagte er und gähnte, »denn hier gibt’s immer was zu tun, und Sie wissen ja: Wenn Herbie zurückkommt und nicht alles in Schuss ist, macht er mir die Hölle heiß.«
»Ja«, sagte sie, »das ist eine gute Idee. Ich werde hier das Licht löschen.« Und dann war sie ebenfalls auf den Beinen, und wenn es ihr in der vergangenen Stunde gelungen war, nicht an Herbie zu denken oder daran, wo er war, und auch nicht daran, welches Vakuum sich in ihrem Leben auftat, bis von ihr selbst kaum noch etwas übrig war, so drang das alles in dem Augenblick wieder auf sie ein, in dem sie das Licht löschte und das Haus in Dunkelheit sank.
43 PROZENT
Als er schließlich zurückkehrte, etwas mehr als einen Monat nachdem er sich, links und rechts gestützt von Dick Graffy und ihr, zum Boot geschleppt hatte, war Herbie von dem Augenblick an, da er durch die Tür trat, ganz der alte. Abgesehen von der Blässe seiner Haut und der Zartheit seiner Hände war keine Veränderung zu bemerken. Sie war mit irgend etwas beschäftigt, vollkommen in Anspruch genommen vom Leben in dieser Abgeschiedenheit und seinen Anforderungen, und hatte nicht bemerkt, dass die Hermes in die Bucht eingelaufen war. Unbemerkt war er mit einem der Männer von der Küstenwache den Weg hinaufgegangen. Beide trugen Rucksäcke voller Lebensmittel – nicht das übliche Zeug, sondern Leckerbissen: Leberwurst, Neufchâtel, Salzcracker, Pastete, frische Milch, Eier, eine weiße Papiertüte voller Éclairs, frisch aus der Bäckerei, und außerdem eine Puppe für Marianne und eine Markasitbrosche für sie –, und sie merkte erst, dass er da war, als er die Tür aufstieß und ihren Namen rief. Es war ein Augenblick, der alles veränderte, ein Augenblick aus einem Roman, den sie vor langer Zeit gelesen hatte und an dessen Titel sie sich nicht erinnerte: Sie wandte sich zur Tür, Marianne sah von ihrem Malbuch auf, Jimmie war irgendwo auf dem Hof, und Herbie eilte, auf dem Gesicht sein kilometerbreites Grinsen, mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.
An diesem Abend feierten sie. Der Mann von der Küstenwache wurde bestürmt zu bleiben, obwohl er auf dem Kutter zurückerwartet wurde. Aber warum nicht die ganze Mannschaft einladen?, fragte Herbie, und so geschah es dann: Sie waren zu neunt beim Abendessen, das mit Salzcracker, Pastete und Drinks aus der Flasche begann, die Herbie mitgebracht hatte, und mit frischgebrühtem Kaffee und Éclairs endete. Als Marianne ins Bett gebracht war, die Männer sich verabschiedet hatten und Jimmie auf sein Zimmer gegangen war, zog Herbie sie ins Schlafzimmer und liebte sie mit der keuchenden Gier eines Ausgehungerten. Seine Hände waren wie die eines Fremden, weich und ohne Schwielen, aber sein Körper war ihr so vertraut, dass er ihr wie eine Erweiterung ihres eigenen
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