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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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erschien. Danach lagen sie da, ihr Kopf ruhte an seiner Schulter, und auf dem Nachttisch flackerte eine Kerze. Jeder war in seine eigenen Gedanken versunken, sie waren beide wach und fühlten sich doch wie in einem Traum, als er das Schweigen brach. »Du hast meine Narbe noch gar nicht gesehen«, sagte er.
    »Na gut«, sagte sie und sah lächelnd zu ihm auf, »wenn du meinst, dass ich sie sehen sollte.«
    Er schlug die Decke zur Seite und entblößte seinen Körper bis zu den Zehen, eine karge Landschaft aus bleicher Haut, akzentuiert von seinen flachen Brustwarzen und dem ergrauenden Nest seines Schamhaars. »Siehst du? Siehst du, was sie mit mir gemacht haben? Saubere Arbeit, oder?«
    Sie sah die lange, gebogene Narbe der genähten Wunde an seiner Flanke, die sie an die Schienen der elektrischen Modelleisenbahnen in weihnachtlich dekorierten Schaufenstern erinnerte. An den Nadeleinstichen und dort, wo sich die Sepsis entwickelt hatte, war die Haut noch schlimm gerötet.
    Er lachte, nahm ihre Hand und legte sie auf die Narbe, damit sie mit dem Zeigefinger darüberfahren konnte. »Dieser Morrison hätte Schneider werden sollen, findest du nicht?«
    Schatten tanzten und sammelten sich unter den Dachbalken. Sie war sehr ruhig, sehr glücklich. »Ja«, sagte sie, »das hat er gut gemacht. Aber bist du sicher, dass du schon wieder ganz gesund bist?«
    »Was meinst du ?« sagte er und zog sie an sich.
    Was zuerst kam – die Entdeckung des Whiskeyfasses oder das Gefühl, nein, das Wissen, das unumstößliche Wissen, dass sie wieder schwanger war –, konnte sie nicht sagen. Es geschah alles in jenen stetig dahintreibenden Tagen im Frühjahr des Jahres 1933 , und ihre Erinnerung war so unbestimmt wie die Wochen, die ineinander übergingen, weil es keine Wochenenden oder Feiertage und, abgesehen von Sonnenaufgang und -untergang, auch sonst nichts gab, was den täglichen Gang der Dinge unterbrach. Sie hatte Herbie wieder. Sie gingen Hand in Hand über die Hügel, klaubten bei Ebbe Muscheln von den Felsen, saßen abends am Kamin und wärmten einander im Bett. Und sie hatte Marianne, die den ganzen Tag im Haus umherwackelte, vor sich hin brabbelte, sich schlafen legte, wo und wann immer es ihr einfiel, und abends nach dem Essen, wenn das Geschirr gespült war und das Licht über dem Ozean verblasste, entschlossen auf den Schoß ihres Vaters kletterte, um ihre Gutenachtgeschichte zu hören.
    Sie wusste nur noch, dass es irgendwann in dieser Zeit einen Tag gegeben hatte, an dem Herbie in höchster Erregung hereingeplatzt war und gerufen hatte: »Flaschen! Ich brauche Flaschen, so viele, wie du mir geben kannst!«
    Es war später Vormittag, und bis auf Jimmies sporadisches Hämmern von der anderen Seite des Hofs, wo die Bar Gestalt annahm, die sie demnächst »The Killer Whale Bar« taufen würden, war es ganz still im Haus. Marianne lag im Wohnzimmer auf dem Boden und spielte mit den Alphabetklötzen, die Herbie für sie geschnitzt hatte, und sie selbst war mit ihrem neuesten Projekt beschäftigt und reparierte die löchrige Sitzfläche eines Korbstuhls, den sie auf einem Müllhaufen hinter der Scheune entdeckt hatte. Und jetzt war Herbie da, stürmte in Richtung Küche und wollte Flaschen. »Komm, nun mach schon«, rief er über seine Schulter. »Wir dürfen keine Zeit verlieren. Was ist mit den Flaschen, in denen der Vanille-Extrakt war? Sind die Korken noch gut?«
    Sie fand ihn in der Vorratskammer, wo er alles durchwühlte. Hier bewahrte sie alle möglichen Schnüre auf, wenig benutzte Töpfe und Pfannen, leere Flaschen und Behälter, die sie ausgewaschen hatte, alte Zeitungen und Zeitschriften, den Besen, den Mop, den Wischeimer. »Was ist denn los?« fragte sie, mitgerissen von seiner Erregung. »Was hast du gefunden?«
    »Wo ist der Korb? Ich brauche einen Korb. Und ein Stück Schlauch und meinen Bohrer, aber Jimmie ist im Schuppen, oder? Na gut, na gut, ich muss es eben schlau anfangen, sonst merkt er gleich, was los ist – aber komm, komm, Flaschen, ich brauche Flaschen.«
    »Du hast mir noch immer nicht geantwortet«, sagte sie.
    Er hielt inne, nur ganz kurz, und grinste sein selbstzufriedenes Piratengrinsen. »Ich hab die Entdeckung des Jahrhunderts gemacht. Aber kein Wort zu Jimmie. Schnell jetzt, zieh dir deine Jacke an, nimm Marianne und komm zum Tor – wenn Jimmie uns sieht, denkt er, wir machen ein Picknick.«
    Was er auf der Luvseite der Insel zwischen Simonton Cove und Harris Point gefunden hatte, war nicht

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