San Miguel: Roman (German Edition)
leibhaftige Abgesandte aus Rye, New York. Ihre Mutter war Herbie immer mit Misstrauen begegnet – dieser Lothario , nannte sie ihn, dieser Abenteurer – und hatte Elise als den klassischen Fall eines späten Mädchens betrachtet, das sich einem Süßholz raspelnden Tunichtgut an den Hals geworfen hatte, dessen Motive immerdar suspekt sein würden, auch nach fünfzig Jahren Ehe. Der Ton ihrer Briefe war in letzter Zeit zunehmend kritisch gewesen, sie hatte das Urteilsvermögen, ja eigentlich die geistige Gesundheit ihrer Tochter in Zweifel gezogen, weil diese vorhatte, Kinder – ihre Enkelkinder – am Ende der Welt aufzuziehen, an einem Ort, der gefährlich, abgelegen und aller zivilisatorischer Errungenschaften beraubt war und wo alles mögliche passieren konnte. Und alles mögliche beinhaltete selbstverständlich niemals Dinge wie Glück, Erfüllung und Gemütsruhe, sondern ausschließlich Katastrophen, die über Inselbewohner hereinbrachen. Zum Beweis schickte sie einen nicht versiegenden Strom von Zeitungsausschnitten mit Berichten über eine Hungersnot auf den Hebriden, Ertrunkene bei Block Island oder Martha’s Vineyard und Todesfälle durch Schlaganfälle, Herzinfarkte und, in einem Fall, bei dem jede Hilfe zu spät kam, durch einen Aprikosenkern in der Luftröhre. Ihre Mutter wachte über sie. Und hier waren George Hammond und John Jeffries, praktisch vom Himmel gefallen. Was blieb ihr übrig, als ihnen zu danken und sie ins Haus einzuladen?
Sie saßen auf dem Wohnzimmersofa, die Sonne schien durch die offene Tür, und der Kamin war kalt, denn es war Hochsommer, mit Temperaturen um zwanzig Grad trotz des beständig wehenden Windes, als Herbie hereingestürmt kam, und es war ganz und gar anders als an dem Tag, an dem die Japaner gekommen waren. Die beiden Männer hatten ein Auge auf die Kinder, während sie in die Küche ging, um Erfrischungen zu holen. Marianne spielte mit selbstgemachtem Spielzeug, und auf dem Boden zwischen ihnen lag das Baby auf einer Decke. Sie stellte einfach einen Teller mit Sauerteigbrötchen und eine Untertasse mit ihrer letzten Butter auf den Tisch, dazu ein Glas Wasser für Hammond und eine Tasse Tee für seinen Begleiter, und wollte gerade Betsy auf den Arm nehmen, ganz überwältigt von Dankbarkeit für diese beiden Amateurflieger, die sich durch Wind und Nebel gekämpft hatten, um ihr Grüße von ihrer Mutter sowie ein Bündel Briefe zu bringen (ganz zu schweigen von sechs Dutzend Eiern, einem zwölf Pfund schweren Schinken und einer lebenden Pute in einem Käfig aus Weidengeflecht), als Herbie, übersprudelnd vor Begeisterung, in seinen Nagelschuhen ins Wohnzimmer stapfte, begierig, den Besuchern die Hände zu schütteln und alles zu erfahren, was es über sie und ihren unübertrefflichen Doppeldecker zu erfahren gab.
Man stellte sich einander vor. Herbie zog den Dreiser heraus und bot den Whiskey aus der Vanillearomaflasche an, und während Hammond dankend ablehnte – »Wenn ich einen sitzen habe, kann ich nicht fliegen« –, nahm sein Begleiter dankend an. Für einen Augenblick verstummten alle und beobachteten Jeffries, als dieser erst nippte und dann das Glas in einem Zug austrank.
»Der war dreißig Jahre – mehr als dreißig Jahre – im Fass«, sagte Herbie und schenkte sich ebenfalls ein. »Haben Sie je einen weicheren Whiskey getrunken?«
Jeffries schmatzte. »Geht runter wie Öl.«
»Und den Beigeschmack finden Sie nicht störend? Das Vanillearoma, meine ich.«
»Vanille? Nein, ganz und gar nicht. Ich rieche überhaupt nichts. Aber« – er streckte grinsend die Hand mit dem Glas aus – »vielleicht sollte ich sicherheitshalber noch eine zweite Geschmacksprobe nehmen.«
Und so tranken sie eine zweite Runde, und Herbie erzählte noch einmal die Geschichte von dem untergegangenen Schiff und dem Wunder des im Sand entdeckten Fasses. »Ich habe Bob Brooks – das ist der Mann, für den ich arbeite, ein Millionär aus Beverly Hills, vielleicht kennen Sie ihn – gebeten, mir ein paar Fünf-Liter-Kanister mitzubringen, als er mit den Schafscherern hierherkam. Wir haben zu zweit beinahe drei Nächte gebraucht, um das Zeug abzupumpen und ins Haus zu schaffen, und ich war verdammt vorsichtig und hab das Ding immer mit Seetang und ein paar Schaufeln Sand abgedeckt, und unsere Spuren haben wir auch verwischt. Ich hatte die ganze Zeit Angst, ein anderer könnte es entdecken, bevor wir alles geborgen hatten. Und dabei dachte ich nicht nur an die Scherer – die
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