San Miguel: Roman (German Edition)
schief und nur einen Meter hoch – ganz und gar nicht so, wie die Weihnachtsbäume in ihrer Kindheit ausgesehen hatten, als die ganze Familie mit Pferden in den kahlen, stillen Wald gezogen und mit einer perfekt proportionierten, drei Meter hohen Fichte zurückgekehrt war –, aber es war ein Baum, auf einer Insel, wo kein einziger Baum wuchs. Sie hätte nicht gedacht, dass der Anblick des Weihnachtsbaums auf dem mit weißem Filz bedeckten Hocker im Wohnzimmer – und der Duft nach Harz und Tannennadeln – einen solchen Unterschied machen würde, doch so war es. Es war bloß ein Baum. Aber er löste eine Flut von Erinnerungen aus – und erzeugte neue, zukünftige Erinnerungen. Für sie und Herbie und die Mädchen.
Das verdankten sie George Hammond. Er war zu einem guten Freund geworden und kam einmal, manchmal sogar zweimal pro Woche. Er brachte ihnen Eier, Milch, frisches Gemüse. Delikatessen, die bei den Gartenpartys seiner Mutter übriggeblieben waren, gebratene Tauben, Aufschnitt, Brot und den Käse, von dem sie nie genug bekommen konnte. Sobald sich herumsprach, was sie auf der Insel taten – sie waren Pioniere und lebten wie die ersten Siedler, und das musste Menschen, die sich an die rechtwinklig angelegten Straßen der Stadt gewöhnt hatten und im Kreislauf von Wollen und Haben und wieder Wollen gefangen waren, sehr romantisch erscheinen –, gab man alles mögliche im Bonnymede Drive ab, mit der ausdrücklichen Bitte, George möge die Sachen mit seiner neuen Cabin Waco nach San Miguel bringen und den Lesters das Leben erleichtern. Es war irgendwie erstaunlich: Sie erlangten Bekanntheit, nur weil sie die Luft eines Ortes atmeten, der die Phantasie beflügelte, sie waren bereits dabei, sich in den Mythos zu verwandeln, der später von der Presse propagiert wurde: Elise die unerschrockene, treusorgende Frau, die auf einem simplen Holzofen Gourmetmenüs kochte, Herbie der verwundete Kriegsveteran, der sich von der Gesellschaft zurückgezogen hatte und Frieden in der Natur suchte, und ihre Töchter, die in paradiesischer Unschuld zu blonden Schönheiten heranwuchsen, während der Rest der Welt von Hass, Hader und harten Schicksalsschlägen geschüttelt wurde.
Als Weihnachten näherrückte, gewöhnte Herbie sich an, Hammond als Santa George zu bezeichnen, den Überbringer von Geschenken und frohen Botschaften. Er hatte den Whiskey mit Bob Brooks geteilt, halbe-halbe, denn Bob war immerhin der Pächter, und Herbie wollte fair sein, aber er hatte etliche Kanister im Vorratsraum verstaut, genug für ein paar Jahre – vorbei die Zeiten, da er hatte knausern müssen, um ein, zwei Flaschen billigsten Fusel auf Bobs Einkaufsliste setzen zu können. Nein, Herbie war jetzt der Besitzer des besten Whiskeys auf den Inseln und die Küste hinauf und hinunter. Und so braute er, als George zwei Tage vor Weihnachten einflog und den Baum, eine Ladung Geschenke sowie eine Weihnachtsgans mitbrachte – als Ersatz für den Truthahn, der den Füchsen zum Opfer gefallen war, bevor er Gelegenheit gehabt hatte, auf einer Servierplatte zu liegen –, einen Weihnachtspunsch, der es derart in sich hatte, dass George, sollte er nur einen einzigen Becher davon trinken, gar nichts anderes übrigbleiben würde, als bis zum nächsten Morgen zu bleiben. Und natürlich trank er einen Becher. Und sie ebenfalls. Sie saßen am Kamin vor einem knisternden Feuer, sangen Weihnachtslieder und lasen den Mädchen die Weihnachtsgeschichten von Dickens vor, und schließlich gingen sie hinaus auf den Hof, um die Gans in ihrem Käfig zu füttern. Nur Herbie dauerte ihr Schicksal.
»Fett genug ist sie ja, George«, sagte er, »fett und saftig.« Das Licht der Taschenlampe in seiner Hand spiegelte sich in den Augen der Gans, die den Kopf schräg legte und ihren Stimmen lauschte. Am Himmel prangten in verschwenderischer Fülle die Sterne. Sie spürte den Punsch in ihren Adern. Es war kalt. Sie dachte an die Schafe, die sich dort draußen in der Finsternis zusammengedrängt hingelegt hatten. Weihnachten. Weihnachten auf der Insel.
»Du hast doch wohl nicht gedacht, ich würde euch einen dürren, mageren Vogel bringen, oder?«
»Nein, so was würde Santa George nie tun. Du bist ... du bist der beste Freund, den ich je hatte.« Herbies Stimme geriet ein bisschen aus dem Gleis und schwankte, überladen mit Whiskey und etwas anderem, das ihr sentimental und übersteigert erschien. »Außer vielleicht Bob Brooks.« Eine Pause. Die Nacht ergoss sich über
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