San Miguel: Roman (German Edition)
Zelt. Sie konnte nicht erkennen, ob seine Augen offen oder geschlossen waren. »Herbie, es ist schon spät«, flüsterte sie.
Sie hörte seine Stimme, die tote Stimme, die sie fürchtete: »Ich weiß.«
»Ich wollte dich wecken, für deine Morgenpatrouille.«
»Ich gehe nicht.«
»Du gehst nicht? Aber seit du wieder da bist, bist du jeden Morgen gegangen.«
Vom Hof ertönte Lärm, der Ganter stritt sich mit einer der Rhode-Island-Hennen, die Bob Brooks ihnen mitgebracht hatte, damit sie Eier hätten, solange George nicht kommen konnte. George war seit Ausbruch des Krieges nicht mehr dagewesen, und sie würden ihn wohl erst wieder zu sehen bekommen, wenn der Krieg vorbei war. Es gab Gerüchte, das Air Corps habe sein Flugzeug beschlagnahmt – noch eine Schwierigkeit, die es zu überwinden galt. Immerhin waren die Eier frisch. »Wenn du dich beeilst«, sagte sie, »mache ich dir ein paar Eier – in fünfzehn Minuten beginnt der Unterricht.«
Er rührte sich nicht, aber sie sah, dass seine Augen jetzt geöffnet waren und an die Decke starrten, ein stumpfer Schimmer im blassen Oval seines Gesichts. »Ich brauche mir nichts vorzumachen«, sagte er. »Ich kann nichts sehen da draußen, nichts, gar nichts, nicht mal mit dem Fernglas – besonders nicht mit dem Fernglas. Die ganze japanische Flotte könnte in Simonton Cove ankern, und ich würde es nicht mal merken.«
»Du brauchst bloß eine Brille. Das nächstemal, wenn Bob kommt, schicken wir dich zu einem Augenarzt aufs Festland.«
»Und meine Hand ist nutzlos. Ich kann nichts damit festhalten. Die Jungs haben den Ausguck praktisch allein gebaut. Ich hab bloß danebengestanden.«
»Und ihnen gesagt, wie sie es machen sollen.«
»Ein Blinder kann keinem sagen, wie er was machen soll.«
»Du bist nicht blind. Wir besorgen dir eine Brille.«
»Besorg mir lieber einen Stock.«
»Hör auf damit. Du machst dich nur verrückt. Und mich auch. Du kannst den ganzen Tag da liegenbleiben und dich bemitleiden, aber ich muss mich um die Mädchen kümmern.« Sie war jetzt an der Tür, und alle Nöte und Sorgen der vergangenen Wochen stiegen in ihr auf, bis sie den bitteren Geschmack auf der Zunge spürte. »Und wenn du Eier oder irgendwas anderes willst, wirst du dich selbst bemühen müssen.«
DER ZETTEL
Zwei Wochen später – am 18 . Juni, dem letzten Schultag der Mädchen vor den Sommerferien – hatte sie noch mehr zu tun als sonst. Sie war vor Tagesanbruch aufgestanden und hatte mit den Vorbereitungen für ein Festmahl begonnen, denn im Lauf des Tages sollten Bob Brooks und ein paar andere Männer kommen. Er würde Jimmie und zwei Scherer mitbringen und die Säcke voller Wolle zum Strand schaffen, die dann nach Santa Barbara gebracht würden, und sie wollte, dass es ein Festtag war, besonders für die Mädchen, die fleißig gelernt und geübt hatten und sich auf die Sommerferien freuten. Außer zwei Lammkeulen, Stampfkartoffeln, Chilibohnen und der gewohnten scharfen Sauce sollte es Nachtisch geben: einen Pudding aus Dosenananas, Brotresten, Maismehl, Zucker und den Bananen aus der letzten Lieferung, die inzwischen ganz schwarz und süß geworden waren, das Ganze in ein Stück Musselin gebunden und in ihrem großen Topf gedämpft. Als Vorspeise fritierte, in Speck gewickelte Muscheln, dazu ein halbes Dutzend Laibe Sauerteigbrot und den Wein, den Bob mitbringen würde, um keine Revolte seiner Arbeiter zu riskieren.
Um sieben Uhr hatte sie das Gefühl, alles einigermaßen im Griff zu haben: Die Lammkeulen lagen vorbereitet und mit Knoblauchzehen gespickt im Kühlraum, die scharfe Sauce köchelte vor sich hin, im Ofen bräunten die Brote, und das Frühstück – Haferbrei mit braunem Zucker und Zimt und natürlich Kaffee – stand bereit. Reg und Freddie waren die ersten, die in die Küche kamen. Sie waren fröhlich, denn sie freuten sich ebenso wie sie auf eine Abwechslung. »Riecht gut«, sagte Reg und blieb, die Mütze in der Hand, am Tisch stehen. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Nein«, sagte sie und sah auf. »Ich schaff das schon.« Herbie mochte noch immer seine Probleme mit ihnen haben – sie nicht. Im Verlauf der vergangenen Monate hatte sie den Eindruck gewonnen, als verstünde sie die beiden immer besser. Sie konnten ja nichts dafür, dass sie hier waren. Im Grunde ihres Herzens waren sie beide gute Jungs und zeigten auch mehr Einsatz, nachdem ihnen aufgegangen war, wieviel Glück sie hatten – soviel Glück wie die glücklichen Lesters –, weil sie
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