San Miguel: Roman (German Edition)
wirkte. Marantha, entnervt vom ständigen Blöken des Lamms, musste sie zweimal daran erinnern, hinauszugehen und es zu füttern, doch am späten Nachmittag saß Edith da, die Füße auf einen Hocker gelegt, einen Roman im Schoß, und schien ihr Lämmchen vollkommen vergessen zu haben. Es wurde dunkel. Sie waren in der Küche und halfen Ida, das Essen zuzubereiten. Ida sprach vom Festland und darüber, was die Leute dort wohl gerade taten und wie seltsam es war, sich das vorzustellen. »Wahrscheinlich gehen sie aus«, sagte Edith. »Ins Konzerthaus. Um Musik zu hören. Oder ein Schauspiel zu sehen.«
»Und danach in ein Restaurant«, fügte Marantha hinzu. Sie sah es vor ihrem geistigen Auge: Tischdecken, Servietten aus Leinen, gefüllte Obstkörbe auf einer Anrichte, verschiedene Käsesorten, ein Steak mit vielen Zwiebeln und Pilzen und neben dem Tisch ein aufmerksamer Ober. Ein Glas Sherry. Stimmengemurmel. Darf ich Ihnen noch etwas bringen, Madame?
Ida hielt einen Augenblick inne – sie wälzte Hähnchenstücke in Mehl, während das Öl in der Pfanne zischte und spritzte – und blickte über ihre Schulter zum dunklen Fenster, als könnte sie bis zum Festland sehen. »Oder in einen Süßwarenladen«, sagte sie. »Wäre das nicht wunderbar?«
Und dann wurde das Essen aufgetragen; Hühnerfrikassee, Bratkartoffeln, Bohnen in Tomatensauce und Maisbrot. Will sprach das Gebet, und man reichte den Teller mit dem Brot herum, als das Brausen des Windes im Hintergrund kurz erstarb und in der eintretenden Stille ein schwacher, dünner Klagelaut ertönte. Zuerst wusste sie nicht, was das sein könnte – vielleicht ein Vogel, der Schutz vor dem Wind gesucht hatte? Die Mäuse? Ein Fuchs? Oder der Hund, der an der Barackentür winselte? Will schien nichts gehört zu haben. Er redete über die Arbeit der kommenden Wochen: Wenn alles gepflügt und das Saatgut ausgebracht war, würden sie sich daranmachen, den Weg zu einer regelrechten Straße zu verbreitern, damit man die Lebensmittel leichter vom Strand heraufbringen konnte, ein Thema, über das er sich bis jetzt bei jeder Mahlzeit verbreitet hatte. Sie wollte gerade fragen, ob irgend jemand etwas gehört habe, als Jimmie aufsah.
»Das wird wohl Ihr Lamm sein«, sagte er und sah nervös in die Runde.
Will blickte verärgert auf. »Das heißt«, fuhr er fort und sprach jetzt mit Adolph, nur mit Adolph, »wenn Curner mit den Sachen, die wir brauchen, je hier eintrifft. Und das ist auch so was – mag ja sein, dass er ein guter Seemann ist, aber wenn es darum geht, zu besorgen, was man ihm in klarem Englisch aufgetragen und womöglich sogar aufgeschrieben hat, ist er eine glatte Niete, wenn ihr’s genau wissen wollt.«
Das Lamm. Es war da draußen im Dunkeln, und nicht nur Edith hatte es vergessen, sondern auch sie selbst. Sie stellte sich vor, wie es sich unter einem Himmel voller bleich glitzernder Sterne am Zaun zusammenkauerte, wie der Wind mit kalten Fingern nach ihm griff und der Hunger sich in ihm festsetzte, als wäre er eine Krankheit.
»Die Sache ist« – Jimmie warf Edith einen raschen Blick zu –, »so ein neugeborenes Lamm ist gegen die Kälte nicht besser geschützt als ein nacktes Baby.«
Edith legte die Gabel hin und sah sich verstört um. »Wir können ihn nicht da draußen lassen – er wird sterben, ganz bestimmt.«
Niemand sagte ein Wort. Die Fenster waren schwarz, im Ofen zischte und knisterte das Feuer, Ida kam aus der Küche, in der einen Hand eine Kanne Kaffee, in der anderen einen zweiten Teller Brot. »Mutter?« Edith sah sie bittend an, ihr Blick war verzweifelt und ihre Stimmlage hoch. Es war ihre erste Krise, dachte Marantha, der erste Misston in Wills Idyll. Und Edith würde ihren Willen bekommen. Sie bekam immer ihren Willen.
Aber noch nicht gleich. Sie musste lernen zu warten. Sie musste lernen, dass ihre Mutter nicht immer nachgab oder jedenfalls nicht ohne Widerstand. Sie trank einen Schluck Wasser – es schmeckte schweflig, mineralisch –, tupfte den Mund mit ihrer Serviette ab und griff zur Gabel. Obwohl das Hähnchen ausgezeichnet war, wirklich erstklassig, stellte sie fest, dass sie kaum Appetit hatte. Sie war entschlossen, sich zum Essen zu zwingen – ihr Anblick im Spiegel hatte ihr mehr Angst eingejagt als irgend etwas, was ein Arzt ihr hätte sagen können –, doch heute abend war sie einfach nicht dazu imstande.
»Mutter?« wiederholte Edith.
Sie wollte nicht den Friedensstifter spielen und auch nicht streiten, doch sie
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