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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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spürte, dass Will auf einen Streit aus war, und so blieb ihr keine andere Wahl. »Könnten wir es nicht im Stall unterbringen, damit es aus dem Wind heraus ist?« fragte sie. »Vielleicht mit, ich weiß nicht, ein bisschen Stroh oder ein paar alten Decken? Wäre das so schwierig?« Sie sah an Will vorbei zu Jimmie, der neben Adolph an Ende des Tischs saß und Bohnen in sich hineinschaufelte, als hätte er eine Woche lang nichts gegessen.
    Der Junge schüttelte den Kopf. Er war hier die Autorität – niemand kannte die Herde besser als er. »Nein, Ma’am«, sagte er, den Blick auf seinen Teller gerichtet, »so viele Decken gibt’s gar nicht, wie man brauchen würde, damit es so eine Nacht überlebt.« Er lächelte sie zögernd an, offensichtlich erfreut über die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde. »Hören Sie den Wind?« sagte er. Sie hörte ihn, alle hörten ihn, sein Brausen übertönte das Ticken des Ofens, das Atmen der Tischgesellschaft und das Klirren des Bestecks auf dem Porzellan. »Es kommt ein Sturm auf«, sagte Jimmie, senkte den Blick wieder auf den Teller und schob sich eine Gabel voll Bohnen in den Mund. »Das da«, sagte er kauend, »ist erst der Anfang.«
    Das war zuviel für Edith. Ohne um Erlaubnis zu bitten, stand sie auf und rannte zur Tür und hinaus in die Nacht. Einen Augenblick später schwang die Tür wieder auf, der salzige Tanggeruch des Ozeans trieb mit einem Windstoß herein, und da war Edith. Sie hatte die Lippen entschlossen zusammengepresst und führte das Lamm herein. Will stieß einen leisen Fluch aus, ein grobes, schmutziges Wort, das er wohl in der Armee gelernt hatte. Es war nicht das erste Mal, dass Marantha es hörte, aber hier, in Gesellschaft, demütigte es sie, es machte sie wütend, und sie rief scharf seinen Namen, während Edith die Leine, die sie dem Lamm um den Hals gebunden hatte, an einem Bein des Ofens festknotete und sich wortlos wieder an den Tisch setzte. Die beiden Rancharbeiter sahen nicht einmal auf. Will kochte, verkniff sich aber jede weitere Bemerkung. Und das Lamm war klüger, als sie gedacht hatte, und gab keinen Piep von sich. Oder vielmehr kein Blöken.
    Für einen langen Augenblick herrschte Schweigen, und der Wind wurde wieder zum beherrschenden Element. Sie sah Edith an und sagte nur: »Soll das heißen, junge Dame, dass du dir nicht einmal die Hände waschen willst?«
    Die ganze Nacht ließ der Wind nicht nach, genau wie der Junge gesagt hatte. Sie hatte so etwas noch nie erlebt. Es war schlimmer als der Hurrikan, der an der Ostküste entlang nach Norden gezogen war und die große Trauerweide vor dem Haus, in dem sie aufgewachsen war, entwurzelt hatte. Jedesmal wenn sie dachte, er würde sich legen, kehrte er mit erneuerter Wut zurück, ließ die Fensterscheiben klirren und fuhr mit unvermittelten, wilden Böen unter die Dachvorsprünge. Will hatte ihr von dem tückischen Wetter hier erzählt – San Miguel war das nördlichste Glied in der Kette der Santa-Barbara-Inseln, der erste Ort, auf den die Nordoststürme stießen –, doch seine Warnung war so tief unter seinem Lob der guten Weidegründe, der spektakulären Aussicht und der romantischen Landschaft (nicht zu vergessen der Luft, der guten Luft) verborgen gewesen, dass sie kaum darauf geachtet hatte.
    Bis jetzt. Jetzt, als sie im Dunkeln dalag und das Ding in ihrer Brust endlich Ruhe gab, hatte sie Angst. Der Sturm brauste und heulte, heillos, erbarmungslos, und es war, als hätte er es auf sie allein abgesehen. Als wäre er gekommen, um sie zu holen. Um sie übers Wasser davonzutragen und in die Wellen zu drücken, hinunter, hinunter zu jenem anderen Ort, in die ewige Finsternis. Das Dach hob und senkte sich, das Haus ächzte und bebte. Alles erschien ihr zusammengepresst wie die Luft unter einem Champagnerkorken, der gleich aus dem Flaschenhals fliegen würde. Sie wollte Will wecken, sich an ihn klammern und das leise, beruhigende Murmeln seiner Stimme hören, doch sie tat es nicht, denn sie wusste, dass er seinen Schlaf brauchte – jetzt mehr denn je – und dass es ohnehin nichts gab, was er hätte tun können, was irgend jemand außer Gott hätte tun können – und Gott hatte sie verlassen. Will lag direkt neben ihr, und doch fühlte sie sich einsamer als je zuvor. Sie konnte nicht schlafen. Sie würde nie mehr schlafen. Und obwohl sie eigentlich hätte aufstehen und sich erleichtern müssen, hatte sie Angst, sich zu bewegen, als könnte die kleinste Veränderung alles aus dem

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