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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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nicht auch aus dieser Situation eine Lehre abzuleiten und ihre Tochter daran zu erinnern, dass es keinen Grund gab, grausam zu sein, dass jeder Mensch, ganz gleich, welcher Gesellschaftsschicht er angehörte, es verdient hatte, mit Würde und Respekt behandelt zu werden, und dass ... Aber was hätte das auch genützt? Edith entfernte sich von ihr, sie wuchs heran, und nun saß sie da, schüttete den Wein hinunter und hielt Will ihr Glas hin, damit er es aufs neue füllte. Was er auch prompt tat. Und noch immer sagte Marantha nichts.
    Edith sang »Blue-Tail Fly«, und dann sang Will mit seinem volltönenden, mühelosen Bariton sein Lieblingslied »The Battle Hymn of the Republic«, und alle sangen mit. Ida stand auf und sang »The Rose of Tralee«, und als alle klatschten, sang sie es – war sie vielleicht ein bisschen beschwipst? – noch einmal. Jimmie war als nächster an der Reihe und sang »Men of Harlech«, aber so leise, dass man sich anstrengen musste, um die Worte zu verstehen (»Men of Harlech, stop your dreaming/ Can’t you see their spear points gleaming«), und als er fertig war, erhob sich Edith, entschuldigte sich und kehrte kurz darauf in einem neuen Aufzug wieder, einem weiten, fließenden Rock und ohne Korsett, und bevor Marantha Einwände erheben konnte, kündigte sie an, sie werde jetzt einen der Tänze vorführen, die sie in der Schule gelernt habe, und zwar zur Melodie von Beethovens »Für Elise«.
    »Da wir ja wohl weder ein Klavier haben« – Edith schob die Stühle beiseite und stellte die Lampen, um die dramatische Wirkung zu verstärken, auf das Bord hinter sich – »noch jemanden, der darauf spielen könnte, wenn wir eins hätten, werde ich die Melodie summen.« Sie hielt inne und sah sich um. »Es sei denn, wir können uns ein Klavier von den Nachbarn ausleihen. Und den dazugehörigen Pianisten.«
    Alle sahen sie gespannt an: Adolph, der unergründliche Adolph mit seinen finsteren Augenbrauen und dem unergründlichen Blick; Jimmie, um dessen Mund ein verblassendes Lächeln spielte; der stolz grinsende Will; Ida, die mit einemmal zusammengesunken und mit offenem Mund dasaß und irgendwie schlampig wirkte. Edith tat, als spähte sie aus dem Fenster, der Saum ihres Rockes hob sich graziös bis zu den Knöcheln, als sie sich vorbeugte und die Augen mit der Hand beschattete. »Was meint ihr, gibt es da draußen irgendwelche vagabundierenden Pianisten?« Sie kostete den Augenblick aus und genoss die Aufmerksamkeit, und dann sah sie Marantha direkt an. »Könntest du für mich einen auftreiben, Mutter?«
    Will stieß ein Lachen aus und sagte zu niemandem im besonderen: »Ist sie nicht ein bezauberndes Mädchen?«
    Und dann begann der Tanz, unsicher zunächst, denn Edith hatte sichtlich Schwierigkeiten, ihre Bewegungen mit der Melodie, die sie selbst erzeugen musste, in Einklang zu bringen, doch dann gelang es ihr immer besser, und so bewegte sie sich, selbst als Ida diskret in der Küche verschwand und die Männer die Flasche herumgehen ließen, bis sie leer war, selbst als ihr Summen verstummte und die einzigen Geräusche im Raum das rhythmische Tappen ihrer Füße und das Heulen des Windes im Gebälk waren, mit langsamen, eleganten Schritten durch den Salon und tanzte im Takt einer Musik, die nur sie hören konnte.

DER ADLER
    Alle redeten von den Scherern – die Scherer kamen, die Scherer –, bis sie zu glauben begann, es handle sich um Angehörige eines messianischen Stammes, die sie alle erlösen würden. Sie stellte sich Männer mit Bärten und seidenen Turbanen vor, mit orientalischen Augen und aufgebogenen Schuhspitzen, die Gewürze bringen und in einer fremden Sprache sprechen würden, doch Will sagte, das sei Unsinn. Will war ganz aus dem Häuschen. Er konnte nicht stillsitzen, er konnte sich nicht ausruhen, er arbeitete wie ein Verrückter an dem Weg, suchte jeden Morgen den Horizont nach dem Segel eines Schiffes ab, das Kurs auf die Bucht hielt, sprang abends vom Kartentisch auf und ging rastlos auf und ab, bis sie dachte, die Dielen würden unter seinem Gewicht nachgeben, und hielt Edith und Ida – und ihr selbst ebenfalls – Vorträge über den Zustand des Hauses. Es musste gemütlicher, sauberer, ordentlicher sein. Und warum? Weil nicht nur die Scherer kamen, sondern auch Mills. Und nicht nur Mills, der aus dem Geschäft ausstieg, sondern auch der neue Partner, der sich an seiner Stelle einkaufen wollte, und es war ihre Pflicht, das Haus so präsentabel wie möglich zu

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