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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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heute nicht. Heute schien die Sonne, die Bodendielen trockneten, die Lämmer tollten herum, und alle Vögel der Welt sangen im Chor, während der Kuchen, Ediths Kuchen, auf dem Tisch stand und abkühlte. Das war es, worauf es ankam, das war alles, was zählte: der Kuchen. Und Edith. Ediths Geburtstag. Sie stand auf, machte sich in der Küche zu schaffen und dachte an all das, was noch zu erledigen war – Jimmie musste Abalonen sammeln, sie musste Wiesenblumen für den Geburtstagsstrauß pflücken und die letzten Verzierungen an dem Kleid anbringen, mit dem sie Edith überraschen wollte –, und als sie sich an den kleinen Tisch am Fenster setzte, etwas Milch in den Porridge rührte, den Ida zum Frühstück gekocht hatte, und sich zwang, ein paar Bissen zu essen, sah sie Edith über den Hof gehen.
    Und wer war bei ihr? Jimmie. Jimmie folgte ihr wie ein mondsüchtiges Kalb und hielt mit beiden Armen den großen Wäschekorb umklammert, als wäre der voller Steine. Warum arbeitete er nicht? Warum räumte er nicht den Weg frei, warum pflügte oder säte er nicht – hatte Will nicht gesagt, das müsse erledigt werden, sobald sich das Wetter besserte? Ediths Miene war ganz gleichmütig, obwohl das Haar unter dem Hut zerzaust und der Rocksaum schmutzig war, als wäre sie wieder einmal querfeldein über die Hügel gelaufen. Sie sagte über die Schulter etwas zu dem Jungen. Im nächsten Augenblick blieben beide stehen, mitten auf dem Hof, keine zwanzig Meter vom Haus entfernt, und Jimmie setzte den Korb ab, der tatsächlich mit Steinen gefüllt zu sein schien – oder nein, es waren Muscheln. Sie waren also am Strand gewesen, und Marantha versuchte gerade, das in seinen Implikationen zu erfassen – die beiden allein, ohne Aufsicht, Ediths Spaziergänge, ihre Launen, die Art, wie der Junge sie beim Abendessen ansah, als hätten ihre Worte und Gesten verborgene Bedeutungen, und was, wenn es so war, was, wenn sie blind gewesen war für etwas, was jeder andere sofort gesehen hätte? –, als Edith die Hand ausstreckte und Jimmie im Matsch auf ein Knie sank und sie ergriff. Und dann drückte er unaufgefordert und ohne den Blick von Ediths Gesicht zu wenden seine Lippen auf ihren Handrücken.
    In diesem Augenblick wurde all ihre Freude zunichte, und sie musste einfach zur Tür und hinauseilen auf diesen stinkenden Sumpf von einem Hof. Ihre Schuhe waren im Nu durchnässt, die Rocksäume schwarz von Schmutz, alles Blut, das noch in ihrem ausgezehrten Körper war, stieg ihr ins Gesicht, und in ihren Ohren heulte ein seltsamer, klagender Chor. Das war es: ein Schock. Es war zügellos, ungeheuerlich. Noch nie hatte sie ... Sie konnte nicht ...
    Jimmie sprang auf. Edith hob den Kopf, und ihr Blick war in die Ferne gerichtet, herausfordernd, als wäre sie nicht ertappt worden, als würde sie sich kein bisschen schämen. An dem Anblick, der sich Marantha bot, war so vieles falsch, dass sie gar nicht wusste, wo sie anfangen sollte. Sie wollte etwas sagen, wollte eine Erklärung verlangen, doch die Worte erstarben ihr in der Kehle.
    Auf der schmutzigen Hose des Jungen zeichnete sich am linken Knie, auf dem er in den Matsch gesunken war, ein nasser Fleck ab. Er setzte eine unschuldige Miene auf. »Guten Morgen, Ma’am«, sagte er, sah ihr aber nicht in die Augen.
    Edith sagte nichts.
    Sie würde nicht husten. Sie würde keinen Anfall bekommen. Sie würde ihren Atem und sich selbst beherrschen. Eine Wolke zog vor der Sonne vorbei, so dass ein Schatten über den Hof fiel und den Hügel hinaufrannte. Im Hühnerhof kollerten die Truthähne. Irgendwo bellte der Hund irgend etwas an. Schließlich – sie würde nicht husten, nein – kehrte ihre Stimme zurück. »Edith, du hörst sofort damit auf«, sagte sie und wusste, wie falsch es war, wie unzureichend es ihre Gefühle wiedergab. Keine Szene , ermahnte sie sich. Nicht vor dem Personal .
    »Wir spielen doch nur.«
    »Spielen? Er ... Ich habe doch gesehen, wie er – «
    »Er ist mein Sklave.« Edith wandte sich zu dem Jungen, der noch immer nicht den Blick hob. »Stimmt’s, Caliban? Habe ich recht?«
    Mit unglücklicher, vor Hoffnungslosigkeit, Resignation und Lust heiserer Stimme sagte er: »Ja.«
    »Ich habe ihn Muscheln sammeln lassen.«
    Marantha wollte die Füße aus dem Schlamm heben und, wütend jetzt, auf die beiden zugehen, doch sie war wie erstarrt. »Du sollst doch nicht unbeaufsichtigt, ich meine ohne Begleitung – «
    »Es ist doch nur ein Spiel, Mutter.« Edith sah zu dem

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