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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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arbeiteten am Weg, inzwischen so weit unten, dass man sie nur noch sehen konnte, wenn man zur zweiten Kurve ging und über die Kante dorthin spähte, wo der Weg eine weitere Kehre beschrieb und die Erde mit dem Trümmergestein der Sprengungen übersät war. Jimmie war auf dem eingezäunten Feld hinter dem Haus und säte Getreide in die Furchen, die er drei Tage lang gezogen hatte. Und Edith? Edith machte einen Spaziergang.
    In der nächsten Stunde stand sie zweimal auf, um Holz nachzulegen, und gerade als sie sich wieder setzte und nur an das Bild dachte, das sie auf das Geschirrtuch stickte – einen Rotkardinal im Flug vor blassblauem Hintergrund, sonst nichts, keine Verzierungen –, bemerkte sie auf dem Vorplatz eine Bewegung. Was war das? Männer, zwei Männer: zuerst ihre Gesichter, dann die Schultern und Oberkörper, die langsam über der Hügelkante auftauchten, und schließlich die Beine, auf denen sie sich, jetzt vollständig zu sehen, auf das Haus zubewegten. Einer von ihnen war Will, selbst auf diese Entfernung unverkennbar mit seinen geflickten Kleidern und dem wiegenden Gang, doch der andere – und das war geradezu ein Schock – war ein vollkommen Fremder. Waren die Schafscherer gekommen? War das ein Scherer, dieser schlanke, hochgewachsene Mann mit der gesunden Gesichtsfarbe, der in der einen Hand ein Gewehr und in der anderen die beiden Füße eines anscheinend gewaltigen Vogels hielt, dessen Kopf auf der Erde schleifte? Sie sah Federn, das zum Leben erweckte Schlagen toter Schwingen im Staub.
    Sie legte die Stickerei beiseite. Eine plötzliche Erregung durchzuckte sie – jemand Neues! –, als sie zur Tür ging. Die Luft war frisch und roch eher nach Meer als nach Schafen. In ihrem Koben grunzten die Schweine, und unter dem Peitschen der Windböen war der ferne Chor der Robben zu hören.
    »Minnie!« rief Will und bog, den Fremden an seiner Seite, um die Ecke des Hauses. »Das musst du dir ansehen!«
    Sie trug ihre Hausschuhe, und trotz ihrer Aufregung, ein neues Gesicht zu sehen, wollte sie nicht von der Veranda auf den matschigen Vorplatz treten, also blieb sie, wo sie war.
    Der Fremde – sie schätzte ihn auf Anfang Zwanzig, in Idas Alter – stand wie angewurzelt da und betrachtete sie verwundert. Er war unrasiert, und sein Bart war von demselben beinahe durchscheindenden Blond wie sein Haar, das in unregelmäßigen Strähnen unter der Hutkrempe hervorhing, als könnte er sich nicht entscheiden, wie lang er es tragen wollte.
    »Sind Sie –?« begann sie und wandte sich dann an Will. »Ist das einer der Schafscherer?«
    Der Mann lachte. »Wohl kaum, Ma’am«, sagte er, trat einen Schritt vor und lüpfte den Hut. »Mein Name ist Robert Ord, Ma’am, und ich komme ab und zu her, wegen der Robben.«
    Will grinste. »Und Guano. Nicht zu vergessen Guano.«
    »Guano?« wiederholte sie.
    Es sah aus, als würde der Fremde erröten, doch wegen des Bartes und der sonnenverbrannten Haut war sie sich nicht sicher. »Das ist der Kot der Seevögel«, sagte er, zog den Kopf ein und wechselte einen Blick mit Will. »Dieses weiße Zeug. Die Farmer auf dem Festland zahlen gut dafür.«
    »Sie nennen es ›weißes Gold‹. Stimmt’s, Robert?«
    »Ja, das stimmt.«
    Wo waren ihre Manieren? Er war ein Robbenjäger, er sammelte ... Exkremente, aber er war dennoch ein Gast, ein neues Gesicht, ein Mensch mit Stimme und Gestalt, der die Langeweile vertreiben und Neuigkeiten von der Welt dort draußen erzählen würde. »Mr. Ord«, sagte sie und ignorierte die Tatsache, dass er in der einen Hand noch immer das Gewehr hielt und die blutverschmierten Füße des Vogels losgelassen hatte, um mit der anderen den Hut zu lüpfen, »möchten Sie nicht hereinkommen und sich an den Ofen setzen? Wir waren gerade dabei, eine Kanne Kaffee zu kochen, und Ida wird das Mittagessen gleich fertig haben – «
    »Ja, ja«, sagte Will obenhin und in einem geringschätzigen Ton, als wäre ihre Einladung ganz belanglos, »wir kommen gleich. Aber sieh dir mal an, was Robert uns mitgebracht hat.« Er deutete auf das in sich zusammengefallene Bündel aus Federn und Klauen zu seinen Füßen, und jetzt erkannte sie, was es war: ein Adler. Einer dieser wilden Raubvögel, die wie mit einem Antrieb versehen durch die Luft glitten, mit reglosen Schwingen die Luftströmungen erfassten und nach Belieben aufstiegen oder sich hinabstürzten – Fischfresser, Aasfresser, Lamm-, Truthahn-, Huhn- und Ferkelfresser. Sie staunte über seine Größe und

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