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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Komfort, nicht ... das hier.« Sie machte eine Gebärde, die das Zimmer, das Haus, die ganze Insel und das Meer und die ferne Steilküste des Festlands einschloss.
    »Du wirst nicht sterben.«
    Es war eine Lüge, und sie beide wussten es.
    Plötzlich erhob er sich entschlossen, stand vor ihr und wollte an ihr vorbei, hinaus in die Nacht, um an seinem so schrecklich wichtigen Weg zu arbeiten. »Verdammt, Marantha«, sagte er. Sein Gesicht war dem ihren so nah, dass sie das geschmorte Hammelfleisch riechen konnte, das es zum Abendessen gegeben hatte – vielleicht roch sie aber auch nur seinen Schnurrbart, den er nie richtig abwischte. »Es ist doch nicht meine Schuld. Von mir hast du diese Krankheit doch nicht.«
    »Nein«, sagte sie ganz leise, »das stimmt.«
    Mit nervösen Schritten ging er an ihr vorbei durch die Tür. Er war schuldbewusst, er schämte sich – und mit Recht. Er hätte auf die Knie sinken sollen wie an jenem Tag, als er in ihrem Salon in der Post Street um ihre Hand angehalten hatte; Sampan, damals noch ein junges Kätzchen, hatte auf ihrem Schoß gelegen, und Edith hatte, ihre Porzellanpuppe im Arm, auf dem Sessel geschlafen. Er hätte sie in die Arme nehmen und trösten sollen. Er hätte, und sei es nur für einen Augenblick, versuchen sollen, sich vorzustellen, wie es war, wenn die Welt ringsum zu nichts zerrann und man Verständnis und Sympathie nur von den stummen Toten erwarten durfte.
    »Verdammt«, fluchte er erneut, obwohl er doch wusste, wie sehr sie das verabscheute, »wir müssen einfach weitermachen, verstehst du das nicht?« Seine Augen waren riesig, das Gesicht war gerötet, als wäre er kurz vor einem Schlaganfall. »Das Leben geht weiter, aber was heißt Leben? Leben heißt arbeiten, Marantha, arbeiten . Und arbeiten werde ich.«
    Irgendwann in der Nacht hörte der Regen auf. Sie lag wach und konnte nicht schlafen, denn sie wurde von Nachtschweiß und Gedanken an das Jenseits geplagt, als das Trommeln auf dem Dach abrupt verstummte und Stille sich ausbreitete, bis die entstandene Leere gefüllt war – eine Stille, die ihr irgendwie schlimmer erschien als der Regen, der wenigstens lebendig oder jedenfalls in Bewegung war. Sie starrte ins Dunkel, zu erschöpft, um die Lampe anzuzünden und zu ihrem Buch zu greifen, und sie dachte an Will, der in dem schmalen Bett im Zimmer unter dem ihren schlief, in derselben Dunkelheit, die sich über die ganze Insel und das Meer und den Kontinent dahinter gelegt hatte und in diesem Augenblick an der Ostküste, im Haus von Maranthas Kindheit, wo ihre Mutter wohl gerade in der Küche frühstückte, dem ersten Tageslicht wich. Schlief sie doch noch ein? Vermutlich. Sie glitt schließlich in eine Leere, doch wenn der Sinn des Schlafens im Ausruhen lag, so bekam sie nicht viel davon.
    Am Morgen fühlte sie sich so schwach, dass sie kaum den Kopf vom Kissen heben konnte. Der Himmel vor dem Fenster war wie ein zweites Dach: flach, grau und einförmig. Warum sie lebte, warum sie atmete, warum sie das Licht dieser Welt erblickt hatte, nur um dann so zu leiden – sie wusste es nicht. Lange lag sie da, bevor sie schließlich das Kissen zurechtschob und sich aufsetzte, so dass ihr Blick auf die Bucht ging und sie sehen konnte, ob dort ein Segel war. Es war keins da. Die Scherer waren nicht gekommen. Sie waren noch immer auf der Nachbarinsel, gingen ihrer Arbeit nach, aßen, tranken, ließen sich Zeit. Die Scherer kommen, die Scherer kommen . Nein, noch nicht.
    Ida brachte das Tablett mit dem Frühstück: Tee, Toast, gebratenes Fleisch, aber keine Eier – infolge der Extravaganz zweier Kuchen und der Sterberate in der Hühnerschar waren Eier mit einemmal kostbar. Als sie gegessen, sich gewaschen und angekleidet und das Haar aufgesteckt hatte, zeigte die Uhr auf dem Regal, das Will an der Wand neben dem Bett für sie gebaut hatte, beinahe zwölf. Das war wohl der Vorteil eines Hauses, das man aus Eisenbahnschwellen und den Wrackteilen der Schiffe, die rings um die Insel zugrunde gegangen waren, zusammengezimmert hatte: Wenn man ein Regal brauchte, nagelte man einfach ein Brett an die Wand, ohne Rücksicht auf ästhetische Feinheiten. Sie nahm ihre Handarbeit, ging hinunter und setzte sich im Salon an den Ofen. Ida war in der Küche, backte Brot und gab, was gerade zur Hand war – Kartoffeln, Mehl, Dosentomaten, das vom Frühstück übriggebliebene gepökelte Schweinefleisch –, in den Topf zu den Resten des gestrigen Hammeleintopfs. Will und Adolph

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