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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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dieselbe Form wie der ihres Mannes, nur dass Nichols’ Schnurrbart pechschwarz wie die Nacht war, während der von Will inzwischen grau – oder vielmehr weiß – war.
    Als Ida das Dessert auftrug – Brotpudding mit vielen Rosinen und großen Mengen Vanillesauce –, wandte Will sich gutgelaunt an Nichols und fragte ihn, als könnte er seine Neugier nicht mehr bezähmen, ob er zufällig Offizier sei. »Oder ehemaliger Offizier, meine ich. Wie ich.«
    Nichols machte ein verblüfftes – oder vielleicht verwirrtes – Gesicht. »Ich?« sagte er, und hier hoben sich die Spitzen seines Schnurrbarts, so dass ein bräunlich verfärbter, mit Gold überkronter Zahn zu sehen war. »O nein. Nach dem Schulunterricht habe ich für meinen Vater gearbeitet, und dann bin ich in den Osten gefahren, um ein Studium zu beginnen, das ich aber leider nie habe abschließen können. Jedenfalls nicht mit einem Diplom.«
    Sie wollte ihn danach fragen – Waren Sie zufällig in Boston? –, damit sie ein gemeinsames Thema hätten und er sich ganz wie zu Hause fühlte, aber die Stimme blieb ihr im Hals stecken, und sie musste sich abwenden, die Hand vor den Mund pressen und mit aller Kraft gegen den Husten ankämpfen. Sie wussten, dass sie krank war. Sie hatten die Gerüchte gehört, dessen war sie sich sicher, aber sie würde sich nichts anmerken lassen, und wenn es sie umbrachte.
    »Und dann«, fuhr Nichols fort und tupfte sich mit einer der Servietten, die sie aufgetrieben hatte, den Mund ab, »ist mein Vater gestorben und hat mir etwas hinterlassen, und Hiram hier« – ein Seitenblick zu Mills – »hat mich so gut wie überzeugt, es gewinnbringend anzulegend. Gewinnbringend für uns alle, meine ich. Sie haben hier Beeindruckendes geleistet«, sagte er und sah von ihr zu Will. »Eine außerordentlich einzigartige Gelegenheit, nicht?«
    Will versicherte ihm, so sei es, und Mills pflichtete ihm bei. Es sei eine Gelegenheit, wie sie sich nur einmal im Leben biete, sagte Mills und wiederholte es: »Nur einmal im Leben. Und wie gesagt: Der einzige Grund, warum ich verkaufen will, ist, dass ich langsam zu alt werde, um auf Schiffen herumzuklettern und Schafe über die Hügel zu treiben.«
    Es gelang ihr, den Husten zu unterdrücken. Ihre Augen tränten, und aus ihrer Kehle drang nur das dünne Pfeifen langsam ausströmender Luft. Mills redete. Er war ein Verkäufer, ja, das war er. Aber seine Argumentation enthielt einen Fehler: Er war nicht älter als Will. Und was sagte das über dieses kleine Unternehmen und über ihr Leben hier aus? Sie wollte ihn unterbrechen und das Thema wechseln – merkten sie denn nicht, dass sie Nichols zu sehr zusetzten, dass sie ihn verschreckten? –, doch im Augenblick musste sie sich voll und ganz darauf konzentrieren, ruhig zu atmen. Sie griff zum Weinglas, trank einen Schluck, atmete, trank noch einen Schluck, atmete noch einmal, und die ganze Zeit lauerte der erste schreckliche Husten dicht unter der Oberfläche.
    »Nein«, seufzte Mills, nahm sein Glas und stellte es wieder ab, »ich fürchte, das ist was für jüngere Männer, obwohl jeder Partner die Ranch auch allein führen könnte. Hab ich ja gemacht, weiß der Himmel. Ganz allein hab ich sie geführt – bis Will dazukam, meine ich –, siebzehn der besten Jahre meines Lebens. Das hier«, sagte er und machte eine Geste, als hielte er in der Hand eine Kristallkugel, in der man die Insel und alles, was darauf war, erkennen konnte, »ist eine Art Paradies. Ein Paradies auf Erden.«
    Ein Schweigen senkte sich über den Tisch. Nichols schlug die Augen nieder und stellte zweifellos Berechnungen an, wieviel ihm diese einmalige Gelegenheit einbringen würde. Der Pudding wurde herumgereicht. Ida brachte die Kaffeetassen. Die Scherer sahen müde und gesättigt aus und schienen darauf bedacht, sich möglichst bald unter einem Himmel voller Sterne und eingehüllt vom warmen, hefigen Geruch der Herde, den der Wind herbeitrug, in ihre Baracke zurückzuziehen.
    Es war Edith, die das Schweigen brach. »Ja«, sagte sie und sah Nichols an, »das stimmt schon, was mein Vater und Mr. Mills gesagt haben, aber ich weiß nicht, ob Sie wissen, wie grässlich das Wetter hier draußen sein kann. Heute hat die Sonne geschienen, und es gab nur sehr wenig Wind – «
    »Ein bisschen schlechtes Wetter macht mir nichts aus«, sagte er, und wieder ließ dieses kleine Lächeln seine Schnurrbartspitzen zucken.
    »Aber Sie machen sich keine Vorstellung«, fuhr Edith fort und nahm

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