Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
nicht, sie strickte nicht, sie tat gar nichts, sie saß nur da und wartete darauf, dass er durch die Tür trat. Die Türklinke klickte, hob und senkte sich, und da war er, auf unsicheren Beinen, beschwipst vom Wein und vom Brandy, und sah bedürftig und hoffnungsvoll aus. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus«, sagte sie, und ihr Blick wies auf das Lager, das sie ihm in der Ecke unter dem Fenster bereitet hatte: eine sehr dünne Rosshaarmatratze aus der Baracke, ein Laken, ein Kissen, eine Decke.
    Einen langen Augenblick stand er da, leicht in den Hüften schwankend, und dann begann er, das Hemd aufzuknöpfen, unbeholfen, mit Fingern wie aus Holz. Beinahe wäre sie zu ihm gegangen, beinahe wäre sie aufgestanden, um ihm wie einem Kind aus den Kleidern zu helfen, beinahe hätte sie nachgegeben, doch es war zuviel: All ihr Groll stürmte auf sie ein wie ein eiskalter innerer Wind, der sie bis in die Knochen, bis in die Seele, bis in die tiefsten Tiefen ihres Wesens frösteln ließ.
    »Es tut mir leid, Will, aber ich kann dein Gewicht an meiner Seite nicht ertragen. Nicht in meinem Zustand. Es tut mir leid, wirklich.«

NICHOLS
    Ob es an der Aufregung darüber lag, dass sie Besuch hatten, vermochte sie nicht zu sgen, aber in der Woche, in der Mills, Nichols und die Scherer da waren, fühlte sie sich mit jedem Tag kräftiger. Der Husten ließ nach. Der Schleim, den sie, vor allem morgens, abhustete, war nicht mehr so fest und enthielt kein Blut. Sie half Ida und Edith beim Zubereiten der Mahlzeiten und fand sogar Zeit, sich um die Blumenbeete zu kümmern, die sie am Zaun des Vorplatzes angelegt hatte. Und einmal ging sie, aus reiner Neugier, zu dem Pferch, in dem die Scherer arbeiteten.
    Es war wohl der zweite oder dritte Tag der Schur. Der Himmel war zur Abwechslung einmal klar, und der Wind war sanft und beinahe lau. Als Will sie nach dem Frühstück mit Sonnenschirm und Handarbeitskorb auf den Pferch zukommen sah, öffnete er das Tor und ging ihr, auf dem Gesicht ein strahlendes Lächeln reinster Freude, entgegen. Er wollte ja, dass sie sich interessierte, und da war sie jetzt, hatte das Haus verlassen, stand im Sonnenlicht und war interessiert. »Minnie«, rief er und reichte ihr die Hand, »komm und sieh dir das an. Das wird dir gefallen, glaube ich.«
    Er trug seine Arbeitskleider, die Hose war schlammverspritzt, sein Haar, die Brust und die Ärmel seines Hemdes waren voller Grassamen, als hätte er Heu gemacht. Dabei würde es bis dahin noch Monate dauern. Nein, er hatte, wie ihr sehr bald bewusst wurde, mit den Schafen gerungen und den Scherern geholfen, die Tiere festzuhalten, während die Männer ihnen die Wolle in zusammenhängenden Vliesen so säuberlich vom Körper schnitten, dass es aussah, als wären es Jacken, die man lediglich hatte aufknöpfen und ausziehen müssen. »Das hoffe ich«, sagte sie. »Diese ganze Sache ist für mich so geheimnisvoll.« Sie lachte. »Ich dachte immer, Wolle kauft man im Laden.«
    Sein Lächeln erstarb und erschien zögernd wieder. »Pass auf«, sagte er, »ich hole dir einen Stuhl, dann kannst du dich außerhalb des Pferchs hinsetzen und uns zusehen. Für mich ist das alles ja auch noch neu, musst du wissen.«
    Und so brachte er ihr einen Stuhl, und sie setzte sich darauf, so weit entfernt, dass der Matsch sie nicht traf, den die Hufe der Tiere aufwirbelten, wenn sie auf den Rücken geworfen und ihre Beine gefesselt wurden, so dass die Scherer, immer einer pro Schaf, diese kompakten, gemütlich wirkenden Wolldinger in jämmerliche, blökende Hautsäcke verwandeln konnten, die eiligst in den angrenzenden Pferch rannten und sich dort zusammendrängten, als schämten sie sich ihrer Nacktheit. Will watete zwischen ihnen herum, und es freute sie zu sehen, wie begeistert er war, wenn er ein Tier packte, sobald Jimmie oder Adolph, die zu Pferde waren und die Schafe zusammentrieben, es durch das Vereinzelungsgatter in den Schurpferch ließen. Und Mills ebenfalls. Mills und ihr Mann arbeiteten zusammen und sorgten dafür, dass jeder Scherer ein neues Tier bekam, sobald er mit dem vorigen fertig war, und dann nahmen sie die Vliese und stopften sie in riesige Segeltuchsäcke, die im Lauf des Vormittags zu gewaltigen Würsten anschwollen.
    Die Sonne war angenehm – es war warm, ausnahmsweise wirklich warm –, und Marantha blieb auch dann noch auf dem Stuhl sitzen, als die Prozedur vor ihren Augen sie nur noch langweilte: Das Schaf blökte verängstigt und verspritzte seine kleinen

Weitere Kostenlose Bücher