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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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je Gewinn machen, wenn keiner die Schafe schert und die Wolle auf den Markt bringt?« Er war zu ungeduldig, um länger als zehn Sekunden sitzen zu bleiben, er ging wild gestikulierend auf und ab, von einem Ende des Zimmers zum anderen, und sie hätte ihm zur Beruhigung einen Whiskey angeboten, doch es gab keinen Whiskey mehr. Er hatte ihn ausgetrunken. Mit Ida.
    »Sie werden schon kommen«, sagte sie und versuchte, sich damit abzufinden und ihn zu beschwichtigen, denn seine Ängste waren dieselben wie ihre: Sie stellte sich vor, wie die Schafe immer schmutziger und zottiger wurden, die Wolle so verfilzt, dass sie von allein abfiel, dass sie über den Büschen hing und der nackte, stinkende, mit Schafspuren übersäte Schlamm von hellen Streifen durchzogen war – kein Cent verdient und alles verloren. Dennoch war diese Verzögerung in gewisser Weise auch ein Segen. An jedem Tag, an dem die Scherer nicht kamen, konnte Will die Dynamitladungen legen, die Felsen sprengen und zusammen mit Adolph, Jimmie und dem Maultier schuften, bis die Straße Gestalt anzunehmen begann. Er hatte sich ungeheuer angestrengt, die Zäune repariert, Roggen und Luzerne ausgesät – sie sprossen bereits –, den Schuppen gebaut und das Hausdach gegen den nächsten Wolkenbruch abgedichtet, doch der Weg war noch immer kaum besser als bei ihrer Ankunft, und dabei war er von entscheidender Bedeutung. Will wusste es. Sie wusste es. Und Mills wusste es ohnehin. Er würde bald hiersein, auf dem Boot, mit dem die Scherer kamen, und im Schlepptau würde er Nichols haben, den neuen Teilhaber, und dann war es an Will zu zeigen, aus welchem Holz er geschnitzt war.
    Eines Mittags, kurz vor dem Essen – es war der zwanzigste oder einundzwanzigste Tag des Monats, ein weiterer Tag in der Verbannung, Nebel am Morgen, Sonnenschein am Mittag –, hörte sie Wills Stimme auf dem Vorplatz, legte ihre Näharbeit beiseite und ging zur Tür, um ihn zu begrüßen. Er hatte den ganzen Vormittag über gesprengt, das gedämpfte Donnern der Explosionen war durch die Schlucht gerollt und hatte die Fensterscheiben klirren und die Bodendielen erbeben lassen, so dass sie es als ein leises Kribbeln in den Fußsohlen hatte spüren können. Edith, die ihr half, Vorhänge für das vordere Fenster zuzuschneiden und zu nähen, um ein wenig Farbe in den Raum zu bringen, hatte sich irgendwann beklagt: »Ich finde das so störend. Als wären wir im Krieg. Es ist ein Wunder, dass noch keiner einen Arm oder ein Bein verloren hat.«
    »Daran solltest du nicht mal denken«, hatte Marantha automatisch gesagt.
    Jetzt stand sie auf und sagte: »Das wird dein Vater sein. Räum den Stoff auf, damit Ida den Tisch decken kann.« Und dann öffnete sie die Tür, so dass das blasse, glasige Sonnenlicht in den Raum fiel, und Will stieg die Stufen zur Veranda hinauf. Hut, Gesicht und Schultern waren mit ockerfarbenem Staub bedeckt, alles war wie immer eine einzige Mühsal, der Ablauf der Tage so vorgegeben wie die Bahn der Sterne am Nachthimmel, doch als sie an ihm vorbei dorthin sah, wo die braunen Landzungen die Bucht wie die Backen einer Zange umschlossen, entdeckte sie ein Segel, das wie ein weißes Messer in der Brust des Meeres steckte. »Ein Segel!« rief sie und erschrak selbst über die plötzliche Heftigkeit in ihrer Stimme. »Ein Segel in der Bucht!«
    Will blieb, einen Fuß auf der Stufe, abrupt stehen, Staub rieselte vom Hut, von den Ärmeln und aus den Falten seiner Hose, und er sah sie ungläubig an, bevor er herumfuhr, auf die Bucht starrte und es mit eigenen Augen sah. Im nächsten Moment erschien Edith in der Tür, und ihre Miene verriet wilde Aufregung. »Wo?« rief sie. »Ich sehe es nicht.« Will deutete darauf. »Da! Da unten! Bist du blind?« Sie rannte die Treppe hinunter, ohne Hut, und ihre besten Schuhe waren bereits durchnässt, bevor sie auch nur die Hälfte des Vorplatzes überquert hatte. Ida eilte aus der Küche herbei, und Jimmie, der gerade um die Ecke geschlurft war, um sein Mittagessen an der Hintertür zu essen, kehrte um und rannte Edith hinterher. Will hielt kurz inne, die tiefen Falten in seinem Gesicht glätteten sich, während er diese neue Entwicklung – ein Segel, Mills, die Scherer – verarbeitete, doch dann strafften sich seine Schultern, immerhin war er ja Captain, und mit donnerndem Nachdruck rief er Jimmie nach: »Wo willst du hin? Komm sofort her!«
    Der Junge blieb so abrupt stehen, dass er im Matsch schlitterte, als wollten seine Beine ohne ihn

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