San Miguel: Roman (German Edition)
Handschuhe, ihre Handschuhe sahen aus, als hätte sie damit Kartoffeln ausgegraben. Sie konzentrierte sich aufs Atmen. Sie hielt sich fest, so gut es ging. Und tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie in ein paar Stunden – nur ein paar Stunden – an Bord sein würde.
Der Weg war viel besser, das musste sie zugeben, wenn auch noch immer nicht so breit, dass man ihn gefahrlos mit einem Wagen befahren konnte, aber das war jetzt Mr. Reeds Sache. Mr. Reed mit seinem hochgesteckten Ärmel, seinen teilnahmslosen Kindern und seiner hageren Frau. Aber wer war sie, dass sie Kritik üben könnte? Dennoch, die Frau – sie behauptete, dreißig zu sein, sah aber zehn Jahre älter aus, die Absätze ihrer Schuhe waren schiefgelaufen, ihr Kleid so oft gewaschen, dass es so farblos wie das Quellwasser in der Küche war, und ihre kobaltblauen Augen hatten einen irren Ausdruck – schien ebenfalls zu leiden. Sie hustete zwar nicht, jedenfalls hatte Marantha nichts davon bemerkt, aber andererseits hatte sie ja auch nicht besonders viel Zeit mit ihr verbracht, weil sie so sehr von den letzten Einzelheiten des Packens und des Aufbruchs in Anspruch genommen gewesen war. Die Frau, Mrs. Reed – ihren Vornamen kannte Marantha nicht – hatte auf der Veranda der Baracke, wo die Familie vorübergehend untergebracht worden war, gestanden und zugesehen, wie Jimmie das Maultier eingespannt und dann den Schaukelstuhl und ein halbes Dutzend Kisten festgezurrt hatte, die an Bord von Charlie Curners Schoner gebracht werden sollten, darunter auch die ungeöffnete Kiste mit dem Porzellan. Mrs. Reed wartete nur darauf, sich im Haus einzurichten, und wer hätte ihr das vorwerfen können? Herzlich willkommen , dachte Marantha, viel Glück . Und wenn sie diesen Ort je wiedersehen würde, dann von oben, von weit oben, von so weit oben, dass sie sogar vor Adlern sicher wäre.
Langsam und vorsichtig arbeitete sich das Maultier durch die Kurven und Kehren und dann auf dem letzten geraden Stück des Wegs zum Strand hinunter und stemmte sich mit klappernden Hufen und schweißnassen Flanken gegen den mit dem Schaukelstuhl und den Kisten beladenen Schlitten. Das Gewicht von Marantha und ihrem Kater zählte vergleichsweise wenig. Die ganze Zeit sagte Jimmie kein Wort und konzentrierte sich ganz darauf, das Maultier im Zaum zu halten, damit es nicht mitsamt seiner Ladung in die Schlucht stürzte. Sie hatte ihm ohnehin nichts zu sagen. Auch mit ihm war sie fertig – sie war froh, dass er hierblieb. Wohin er gehörte. Er taugte nicht für die Gesellschaft, nicht nach dem, was er Edith getan hatte – was er mit Edith getan hatte. Und Edith war selbst keineswegs schuldlos.
Es war geschehen kurz nachdem Reed, angeheuert und bereit, wie vereinbart gegen Ende des Monats zurückzukehren, mit Charlie Curner zum Festland gefahren war. Der Tag hatte wie üblich trüb begonnen, und der Nebel hielt sich bis in die Nachmittagsstunden, wich dann aber einer hoch am Himmel stehenden bleichen Sonne, deren Licht durch die Fenster fiel, während Marantha am Ofen saß und nähte, entschlossen, jeden Riss in Laken, Bettbezügen und Unterkleidern zu flicken, bevor alles für die Rückfahrt verpackt wurde. Vielleicht war es die Tatsache, dass die Sonne schien, vielleicht wollte sie auch einfach nur einmal das Haus verlassen – jedenfalls legte sie irgendwann die Arbeit beiseite, setzte ihren Hut auf, nahm den Sonnenschirm und ging hinaus. Sie wollte zur Klippe spazieren und sehen, ob sie das Festland erkennen konnte, und setzte ihre Schritte unbeholfen, denn die Beinmuskeln waren durch mangelnde Übung erschlafft, doch es war ein angenehmer Tag, und sie brauchte Bewegung. Nach einer Weile fühlte sie sich tatsächlich besser, kräftiger, und obgleich es eigentlich kindisch war, freute sie sich darauf, einen Blick auf das Festland zu werfen, und sei es nur, um sich zu überzeugen, dass es noch immer da war.
Als sie zu der Felsnase kam, wo die Klippen steil aus der donnernden Brandung aufragten, war sie enttäuscht. Die Sonne stand über ihr, doch die Küste war in Nebel gehüllt, und es war nichts zu sehen als ein regloses graues Band am Horizont. Sie stand da und starrte über das Meer, als der Wind drehte und sie Stimmen hörte. Ediths Stimme – sie war klar zu erkennen – und eine andere, die Stimme eines Mannes. Nein, eines Jungen. Jimmies Stimme. Aber wo waren sie?
Vorsichtig trat sie ein Stück vor und spähte über den Rand der Klippe. Nicht einmal zehn Meter unter ihr
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