San Miguel: Roman (German Edition)
wandte sie sich ab und ging über die Rasenfläche und am Haupteingang des Hotels vorbei zur Straße. Dort begann sie wieder zu rennen, doch diesmal rannte sie nicht blindlings. Diesmal hatte sie eine Absicht, einen Plan. Sie war nicht hilflos. Sie hatte Geld. Viel Geld. Genug, um von hier zu verschwinden, sofern sie den Mut hatte, es zu benutzen.
Die Straßen waren schmutzig. Die Sonne verspottete sie. Nach etwa einem Block verlangsamte sie ihre Schritte. Sie ging zielstrebig, ihr Rock bauschte sich, ihre Augen blickten geradeaus. In ihrer Nachttischschublade war ein Brief von ihrer Mutter, ihr letzter Brief, mit unsicherer Hand geschrieben am Vorabend ihres Todes. Er war viel zu kurz, nur ein Absatz, in dem stand, wie sehr sie Edith liebte und dass sie vom Himmel aus über sie wachen werde und dass ihr Vater für sie sorgen werde, bis sie volljährig sei, und dann werde sie gemäß dem Testament ihr Erbe antreten, von dem sie, ihre Mutter, wünsche, es wäre größer. Mit diesem Brief übergebe sie Edith ein mit Edelsteinen besetztes Armband, das einst ihre eigene Mutter getragen habe, sowie einen Double Eagle, eine Zwanzig-Dollar-Goldmünze, mit der sie verfahren dürfe, wie sie wolle. Auf dem Umschlag war ein Blutstropfen, und die letzten Zeilen – Mit all meiner Liebe, Mutter – waren kaum lesbar. Bei dem Gedanken daran wäre sie beinahe wieder in Tränen ausgebrochen, doch sie beherrschte sich, denn nun verfolgte sie einen Plan. Sie würde sich zum Abendessen setzen, als wäre nichts vorgefallen, und wenn ihr Stiefvater plaudern wollte, würde sie plaudern, und sie würde lächeln, wenn sie lächeln sollte. Und wenn er dann zu Bett gegangen war, wenn es still war im Haus und Ida in ihrem und Adolph in seinem Zimmer schliefen, würde sie ihren Koffer packen, die Treppe hinunter- und zur Tür hinausschleichen und in der Nacht verschwinden, ohne sich ein einziges Mal umzusehen.
DIE FAHRKARTE
Der Mann am Schalter des Dampfschiffbüros sagte, er könne auf zwanzig Dollar nicht herausgeben, und so musste sie warten, bis die Bank öffnete, und dann wollte der Mann in der Bank wissen, wer sie sei und woher sie diese Münze habe. Sie fand zwar, dass es ihn nichts anging, woher ihr Geld stammte und was sie damit machte, sagte ihm aber ihren Namen und erklärte, ihre Mutter sei kürzlich gestorben und sie wolle mit dem Ein-Uhr-Dampfer nach San Francisco fahren. Dort befinde sich ihre Schule, daher der Koffer. Der Mann – er trug einen Augenschirm aus grünem Zelluloid, der seinen Augen den Glanz nahm – starrte auf die Münze, die zwischen ihnen auf der Theke das Schalters lag. Dann sah er Edith nachdenklich an, machte aber keine Anstalten, die Münze in die Geldschublade zu schieben oder Dollarscheine abzuzählen. Oder Silbermünzen. Oder sie zu fragen, was von beidem ihr lieber sei. »Ich bin Studentin im zweiten Studienjahr an Miss Evertons Seminar für junge Damen«, sagte sie, um die Rechtmäßigkeit ihres Tuns zu unterstreichen – sie war einfach ein Schulmädchen, das seine Mutter beerdigt hatte und sich nun auf dem traurigen Rückweg ins Internat befand.
Sie versuchte, dem Blick des Mannes standzuhalten, spürte aber, dass ihre Selbstsicherheit schwand, fühlte sich ertappt und sah zum benachbarten Schalter, wo eine herausgeputzte Frau mit einem Hut, so groß wie ein Vogelbad, mit dem Kassierer plauderte. Die Frau wandte kurz den Kopf, und Edith erstarrte: Die kannte sie doch? War sie nicht eine der Lehrerinnen an der Highschool gewesen? Jetzt drehte die Frau sich um und starrte Edith an – wie hieß sie noch gleich? In dem Moment, als sie den Mund öffnete, fiel es ihr ein: »Mrs. Parsons, wie geht’s Ihnen? Erinnern Sie sich nicht – ich war vorletztes Jahr in Mrs. Sanders’ Klasse. Edith Waters.«
Offensichtlich erinnerte die Frau sich nicht, was sie aber nicht hinderte zu flöten: »O ja, natürlich, natürlich. Wie geht es Ihnen?«
Der Kassierer beobachtete sie, und so nickte sie nur, als wollte sie sagen: Danke, gut. Dann fügte sie hinzu: »Ich bin jetzt in Miss Evertons Seminar in San Francisco.«
»Oh, das ist sicher etwas ganz anderes als unsere bescheidene kleine Schule.«
»Ja«, sagte sie, »das stimmt«, und wollte Mrs. Parsons versichern, wie sehr es ihr in Santa Barbara gefallen habe und wie fortschrittlich die Highschool sei, doch der Kassierer zählte bereits die Dollarscheine ab, und so lächelte sie nur. Sie steckte das Geld in ihre Börse, nahm den Koffer und machte Platz für
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