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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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sich in der Schlange vor dem Schalter an und konzentrierte sich auf ihre Haltung – Kopf hoch, Schultern zurück. Wie stehst du denn da, Edith, wo ist deine Selbstachtung? würde ihre Mutter sagen, wenn sie hier wäre, doch sie war nicht hier und würde nie mehr hiersein. Als sie an der Reihe war und den auf den Aushängen verzeichneten Betrag für eine Passage in der dritten Klasse auf den Tresen legte, sah der Mann hinter dem Schalter sie nur an. »Ich war in der Bank und habe wechseln lassen«, sagte sie.
    Er war ein kleiner, weichlich wirkender Mann, nicht größer als Jimmie, und der war nur ein Junge. Offenbar versuchte er, sich einen Backenbart stehen zu lassen: Auf der unteren Hälfte seines Gesichts waren rötliche Haarbüschel, die von weitem wie Schürfwunden und aus der Nähe wie ein Stück Tierfell aussahen. »Wie bitte?« sagte er.
    »Ich habe meine Goldmünze wechseln lassen«, sagte sie und schob ihm das Geld zu. »Ich möchte einen Fahrschein nach San Francisco, einfach, dritte Klasse.«
    »Es tut mir leid, Miss, aber es verstößt gegen die Geschäftsbestimmungen unserer Gesellschaft, Fahrscheine für unbegleitete« – er hielt inne, sah ihr kurz ins Gesicht und schlug die Augen nieder – »Kinder auszustellen.«
    »Aber vorhin ... vorhin haben Sie gesagt, Sie könnten nicht wechseln.«
    Er musterte sie kühl. »Das habe ich nicht.« Die Lüge lag offen zutage.
    »Ich bin kein Kind. Ich bin« – auch sie konnte lügen – »einundzwanzig.«
    »Das sind die Bestimmungen«, sagte er. »Sie müssen in Begleitung Ihrer Mutter oder Ihres Vaters sein.«
    Sie wollte keine Aufmerksamkeit erregen, das war das letzte, was sie gebrauchen konnte, aber sie konnte nicht anders. »Meine Mutter ist tot«, sagte sie.
    »Dann eben mit Ihrem Vater.« Er sprach leise und bedauernd und richtete den Blick auf den nächsten Kunden.
    »Mein Vater ist auch tot.«
    »Tut mir leid«, sagte er.
    Als sie sah, dass er ihr nicht geben würde, was sie verlangte – er war störrisch, ein Maultier, ein Idiot –, fuhr sie herum, funkelte den Mann hinter sich zornig an, marschierte mit knallenden Absätzen und schwingendem Koffer zur Tür und trat in die pralle Mittagssonne. Sie versuchte, sich zu beruhigen und nachzudenken, aber ihre Wut verwandelte sich bereits in Verzweiflung. Sie fühlte sich ausgesetzt. Hilflos. Alle möglichen Leute konnten sie gesehen haben, irgendwelche Freunde ihres Stiefvaters, die sie nicht einmal kannte, irgendein Viehhändler, ein Matrose oder ein Kaufmann, der auf die Ankunft des Schiffs wartete. Eine leichte Panik überkam sie. In diesem Augenblick ertönte eine Sirene, und als sie aufblickte, sah sie das Schiff, so groß wie ein Häuserblock und mit rauchendem Schornstein, an der Küste entlanggleiten. Die Bohlen der Pier erbebten. »Da ist das Schiff!« rief jemand.
    Einen verrückten Augenblick lang erwog sie, sich an Bord zu schleichen, sich eng an eine Familie zu halten – wenn man sie schon für ein Kind hielt, würde sie sich eben auch wie ein Kind verhalten – und sich dann irgendwo zu verstecken, in einem der Rettungsboote, in einem Schrank oder einer Toilettenkabine oder unter einem der Tische im Salon. Sie hatte Geld. Sie konnte sich Tee oder ein Abendessen bestellen und so lange sitzen bleiben, wie sie wollte, sie konnte dem Ober sagen, ihre Eltern fühlten sich nicht wohl, sie seien seekrank – irgend etwas, solange sie nur von hier fortkam –, aber sie wusste, dass sie sich etwas vormachte. Ganz langsam straffte sie die Schultern, nahm Koffer und Sonnenschirm, kehrte dem Schiff den Rücken und ging zum Anfang der Pier, als wäre sie soeben eingetroffen. Sie ignorierte die Männer auf den Fuhrwerken, die Fischer und all die anderen mit ihren stumpfsinnigen Gesichtern und den ausgelaugten Augen.
    Am Ende der Pier angekommen, wusste sie, was sie tun würde, obwohl es riskant war, riskanter noch als das Schiff. Die Postkutsche wagte sie nicht zu nehmen – daran würde ihr Stiefvater als erstes denken, und es war gut möglich, dass der Agent ihr dasselbe sagen würde wie dieser Idiot von der Schiffahrtsgesellschaft –, doch die Eisenbahn, das war etwas anderes. Die Eisenbahn war für alle da. Zwar hatte Santa Barbara erst seit kurzem einen Bahnhof, und Edith war noch nie mit dem Zug gefahren, aber Becky Thorpe hatte es getan, also konnte sie es auch. Das Problem war, dass der Zug nicht nach San Francisco fuhr, sondern nach Süden, nur nach Süden. Nach Los Angeles. Wenn sie den Zug

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