San Miguel: Roman (German Edition)
nahm, würde sie auf sich selbst gestellt sein, ohne Zimmer oder Zimmergenossin, ohne Mahlzeiten im Speisesaal, ohne Mr. Sokolowskis Klavierunterricht oder Miss Evertons behütende Hand – nicht dass Miss Everton sie je persönlich behütet hätte, aber sie war da, eine Institution in loco parentis , ein Puffer zwischen den Mädchen und der harten, rauhen Welt, die sie aus den Romanen von Zola oder Dickens kannten. Sie würde sich ganz allein in einer Stadt zurechtfinden müssen, in der sie erst einmal gewesen war, vor Jahren, mit ihrer Mutter. Sie würde sich ein Zimmer nehmen müssen, aber wer würde ihr eins vermieten? Und womit würde sie es bezahlen, wenn die zwanzig Dollar aufgebraucht waren?
Egal. Sie ging zum Bahnhof, trat an den Schalter und verlangte eine Fahrkarte für den nächsten Zug nach Los Angeles, und das einzige, was der Mann wissen wollte, war: Einfach oder Rückfahrkarte? , und sie antwortete ohne zu zögern: Einfach . Dann setzte sie sich auf eine Bank in der Ecke und wartete. Der Zug fuhr um 17 . 30 Uhr, und bis dahin würde es dunkel sein. Ihr Stiefvater würde sie suchen, wenn sie nach Einbruch der Dunkelheit nicht zu Hause war, soviel war sicher, aber er würde nie darauf kommen, dass sie nach Los Angeles fuhr – nach San Francisco, ja, zur Schule, wohin sie gehörte, aber nicht nach Los Angeles, eine Stadt, die er kaum kannte. Dennoch – es war jetzt kurz nach halb zwei, und vielleicht hatte Ida ja schon Alarm geschlagen. Sie stellte sich vor, wie ihr Stiefvater sich zum Mittagessen setzte, nachdem er den Morgen damit verbracht hatte, Vorräte für die Rückkehr auf die Insel einzukaufen – die großen Säcke voller Reis, Bohnen und Mehl, deren Anblick ihr mittlerweile verhasst war, die Farmgerätschaften und Werkzeuge –, sie stellte sich vor, wie er sagte: Wo zum Teufel steckt eigentlich Edith? und Ida antwortete: Ich hab sie den ganzen Vormittag nicht gesehen, und auf ihrem Zimmer oder im Garten ist sie auch nicht .
Sie versuchte zu lesen, um sich die Zeit zu vertreiben, doch ihr Blick sprang immer wieder zur Tür: Menschen kamen und gingen, ein Stimmengewirr lag in der Luft, man erkundigte sich nach Fahrplänen und Tarifen und ob der 17 . 30 -Uhr-Zug auch wirklich in Buenaventura hielt. Irgendwann döste sie ein, das Buch aufgeschlagen auf dem Schoß, aber dann schlug die Tür mit einem Knall zu, und sie schrak hoch. Es roch nach Schuhcreme, Kohlenstaub und Leder. Der Mann am Fahrkartenschalter aß ein Cornedbeef-Sandwich, und auch das konnte sie riechen. Mit einemmal war sie hungrig und wünschte, sie hätte beim Frühstück mehr gegessen. Sie begann an Essen zu denken, an die Geschäfte in der State Street, wo sie Käse und Brot oder ein Hamburger-Sandwich kaufen könnte, aber sie wagte es nicht, ihren Platz zu verlassen, obwohl es vier Uhr war und der Zug erst in eineinhalb Stunden kommen würde. Trotzdem, sie konnte es nicht riskieren, auf der Straße gesehen zu werden. Was würde ihr Stiefvater denken – dass sie Becky Thorpe besuchte, obwohl sie einander kaum noch kannten? Dass sie einen Spaziergang machte? Sich in Läden und Geschäften umsah? Nein, das würde er ganz bestimmt nicht denken. Er würde sofort Bescheid wissen – immer schon hatte er sie misstrauisch beäugt, sie und ihre Beziehungen zu Jungen, obwohl die praktisch nicht existierten, nie war er zufrieden, immer nahm er von ihr nur das Schlimmste an –, und es war nur eine Frage der Zeit, bis er sich auf die Suche nach ihr machen würde.
Der Gedanke daran machte ihr angst. Sie sank in sich zusammen und versuchte, sich auf die Zukunft zu konzentrieren, auf die guten Dinge, die sie erwarteten. Wenn sie nach San Francisco zurückkehrte – und das würde sie, koste es, was es wolle –, dann nicht zu Miss Everton oder Mr. Sokolowski oder irgendeinem wie auch immer gearteten Unterricht. Sie war jetzt erwachsen. Sie hatte genug Unterricht gehabt. Nein, sie würde zum Bühneneingang der Theater gehen und für jede Rolle in jedem Stück, das gespielt wurde, vorsprechen, und natürlich würde man sie nur als Zweitbesetzung oder für eine Nebenrolle – als Komparsin – nehmen, aber sie würde herausstechen, man würde sie bemerken, und mit harter Arbeit und ein bisschen Glück würde sie schon bald die Hauptrollen bekommen: die jugendliche Unschuld, die Prinzessin, die junge Frau des Grafen oder Senators. Und wenn man ihr von den Balkonen oder in der Lobby zujubelte, würde der Name, den man rief, nicht Edith
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