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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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zu den Fahrkartenschaltern der Postkutsche, der Dampfschiffahrtsgesellschaft und der Eisenbahn, um dafür zu sorgen, dass sein Verbot auch eingehalten wurde.
    »Das ist ungerecht«, sagte sie. »Du hast kein Recht dazu.«
    »Dein Platz ist bei deinem Vater.«
    »Du bist nicht mein Vater.«
    »Das bin ich eben doch. Und du bist ein undankbares, halsstarriges Kind, und wenn du nicht gehorchst, nehme ich den Gürtel und bearbeite dich, bis du zur Vernunft kommst, das schwöre ich.«
    »Niemals! Das tue ich nicht. Ich komme nicht mit.«
    Plötzlich war der Gürtel in seiner Hand und zischte mit einem unheilverkündenden Schnappen durch die Schlaufen an seiner Hose, und sie rannte hinaus, die Treppe hinauf und in ihr Zimmer, bevor er sie zu fassen bekam. Sie hörte seine schweren Schritte auf den Stufen und verschloss die Tür, doch er warf sich mit der Schulter dagegen, so dass sie aufflog, und dann stampfte er in ihr Zimmer, mit Augen, so kalt wie die eines Mörders. Der Gürtel in seiner Faust schwang hin und her wie eine Schlange. »Wirst du gehorchen? Wirst du jetzt gehorchen?«
    Sie saß auf dem Bett und umklammerte das Kissen. Ihre Mutter war tot, und zwischen ihnen konnte es keine Versöhnung geben, das sah sie jetzt. »Ja«, sagte sie.
    »Wie war das?«
    »Ja«, sagte sie. »Ja.«
    In den nächsten beiden Tagen verließ sie ihr Zimmer nicht, und es war ihr gleichgültig, ob sie verhungerte oder nicht. Sie hörte die anderen unten geschäftig hin und her gehen. Die Sonne warf einen Streifen auf die Wand hinter ihr und verschwand, kehrte am Morgen zurück und verschwand abermals. Am Abend des zweiten Tages klopfte es an der Tür, und da stand Ida, ein Tablett in der Hand und eingehüllt in das Aroma von Gerstensuppe mit Tomaten. Ihre Miene war unergründlich, als hätte sie draußen auf dem Flur eine Maske aufgesetzt. Auf wessen Seite stand sie? Was hatte er zu ihr gesagt? Hatte er sie geschickt? »Hier«, sagte Ida und stellte das Tablett auf den Nachttisch, »probier das mal.«
    Aber sie wollte nicht, obwohl sie seit dem Morgen ihrer gescheiterten Flucht, also seit beinahe drei Tagen, nichts mehr gegessen hatte. Ihr Magen knurrte. Sie musste unwillkürlich schlucken.
    »Wenn du unter den Lebenden bleiben willst, musst du etwas essen.«
    »Ich will aber nicht. Ich will nur noch sterben. Ich will bei meiner Mutter sein.«
    »Das meinst du nicht im Ernst.«
    »Ich hasse ihn«, sagte sie. »Ich hasse ihn aus tiefstem Herzen.«
    Ida stand mitten im Zimmer, das Licht im Flur warf ihren Schatten über den Boden und bis zum Fußende des Betts, wo er die Wand hinaufkroch. Sie sagte nichts, doch nach einem Augenblick ging sie zu dem Tisch am Fenster und entzündete die Lampe, die dort stand.
    »Er hat meine Mutter umgebracht. Und jetzt will er mich auch umbringen.«
    Wenn sie Widerspruch erwartet hatte, so hatte sie sich geirrt. Statt dessen kam Ida zum Bett und setzte sich neben sie. »Edith«, sagte sie leise, und das Lampenlicht umspielte ihr Haar und verlieh ihren Zügen einen sanften Schimmer. »Hier«, sagte sie, »leg deine Hand hierhin«, und sie nahm Ediths Hand und legte sie auf ihren Bauch. Es war ganz still im Raum. Edith spürte die Wärme unter dem Stoff des Kleids und der Unterwäsche, sie spürte Idas Körper, das Klopfen ihres Herzens. Es war das Intimste, was je zwischen ihnen stattgefunden hatte. »Spürst du das?«
    Sie war verwirrt. Idas Gesicht war nur Zentimeter von ihrem entfernt. Sie konnte den Puder riechen, den sie verwendete, sie konnte jede einzelne Wimper erkennen. »Was meinst du? Was soll ich spüren?«
    »Ich kriege ein Kind.«
    »Ein Kind?« Das war ein Witz. Es musste ein Witz sein – Ida war ja nicht einmal verheiratet. »Aber wie ... wie kann das sein?«
    Ida schüttelte ganz langsam den Kopf. Sie wollte etwas sagen, besann sich aber. »Ich fahre zurück in den Norden, zu meiner Mutter«, sagte sie schließlich und schlug die Augen nieder.
    Warum dachte Edith in diesem Augenblick an sich selbst, nur an sich selbst? Weil sie in einem sich verdunkelnden Wirbel aus sturmgepeitschten Wogen unterging und sich an alles klammerte, was sie zu fassen bekam, weil sie noch ein Mädchen war, dessen einzige Erfahrungen aus einem verstohlenen Kuss von einem Jungen namens Thomas R. Landon von der St. Basil’s und dem Gefühl von Jimmies heißen Lippen auf ihrem Oberschenkel bestanden, aber Jimmie war nichts, und sie selbst war ebenfalls nichts. Ida würde ein Kind bekommen. Es gab ein männliches

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