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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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sein. Niemand, den sie kannte, hieß Edith. Mit ihrer neuen Identität würde sie einen neuen Namen annehmen, einen Namen, der ihr in einem Tagtraum gekommen war, nachdem sie ein Dutzend anderer verworfen hatte, einen Namen, der so eingängig und direkt und dennoch exotisch war, wie Edith Waters oder auch Lillian Russell es nie sein würden. Inez. Man würde nach Inez Deane rufen.
    Um Viertel vor fünf begann der Wartesaal sich zu füllen. Neben Edith saß eine Frau mit einem Korb voller Orangen. Sie hatte einen kleinen Jungen dabei, der immer wieder sagte: »Wir fahren mit der Eisenbahn« und dann zu seiner Mutter aufsah und fragte: »Stimmt doch, oder?«
    »Ja«, sagte die Frau, »ja, wir fahren nach Pasadena und besuchen deine Oma.« Sie lächelte Edith zu. »Beachten Sie ihn nicht«, sagte sie. »Es ist seine erste Zugfahrt.«
    »Er stört mich überhaupt nicht.« Edith beugte sich vor, so dass ihr Gesicht auf derselben Höhe wie das des Jungen war. »Und wie heißt du?«
    Er wandte den Blick ab, wippte auf den Füßen vor und zurück und wiegte verlegen die Schultern. »Na, sag schon«, forderte seine Mutter ihn auf. »Sag der Frau, wie du heißt.«
    Noch immer schaukelnd, sah er seine Mutter an und warf Edith einen kurzen stolzen Blick zu. »Jimmie.«
    »Jimmie?« wiederholte sie überrascht, und für einen Augenblick war sie wieder auf der Insel, der Tag hüllte sie ein wie ein ungewaschenes Laken, und vor ihr hockte Jimmie und drückte seinen warmen, nassen Mund auf die Innenseite ihres Oberschenkels, als wollte er eine Orange aussaugen ...
    »Möchten Sie eine?« fragte die Frau. »Ich habe den ganzen Korb voll, die bringe ich meiner Mutter mit. Bedienen Sie sich.«
    Genau in dem Moment, als sie die Orange nahm, wurde zum hundertsten Mal an diesem Nachmittag die Tür aufgestoßen. Fast beiläufig, als hätte sie die ganze Zeit gewusst, wie die Dinge sich entwickeln würden, hob sie den Kopf und sah in die Gesichter ihres Stiefvaters und eines Fremden mit einem hohen Hut, der, wie sich herausstellte, den sechszackigen Stern auf der Hemdtasche aus gutem Grund trug. Sie sprang nicht auf, sie protestierte nicht. Sie gab der Frau die Orange zurück, nahm Koffer und Sonnenschirm und ging gefasst zur Tür.

DER HERD
    Und so befand sie sich abermals an Bord eines Schiffs, doch diesmal war es kein Dampfer, es war nicht die Santa Rosa , und es fuhr nicht nach San Francisco. Sofern darin eine grausame Ironie lag, vermochte sie diese nicht zu erkennen. Sie saß steif da, den Blick geradeaus gerichtet, den Rücken an die Wand gedrückt und die Füße fest auf den Boden der Kajüte gestellt, in der es nach Tabak, Schweinefett, Fischabfällen und Männerschweiß roch. Sie saß auf demselben Platz, auf dem ihre Mutter gesessen hatte, und hätte der Geist ihrer Mutter sein können, gefangen zwischen Diesseits und Jenseits. Die Männer waren oben, im Ruderhaus, und tranken Whiskey, und ihre Blicke verrieten Vorfreude. »Wir fahren nach Hause«, hatte ihr Stiefvater gerufen und Adolph auf den Rücken geklopft, als sie die Vorräte an Bord geschafft hatten, und Adolph, der mit Charlie Curner dabeigewesen war, einen Sack Pintobohnen im Laderaum zu verstauen, hatte mit seinem üblichen verkniffenen Lächeln geantwortet. Charlie Curner hatte gegrinst. Es war ein schöner Tag mit einer guten Brise, und er wurde bezahlt.
    Was sie betraf, so weigerte sie sich, irgend jemanden anzusehen, ja auch nur den Blick zu heben. Sie hatte auf Sonnenschirm, Korsett und andere modische Accessoires verzichtet; sie starrte auf die Bohlen der Pier, auf die Planken des Schiffsdecks, auf die Stufen der Treppe, die hinunter in die Kajüte führte, und sie sagte kein Wort, nicht einmal, wenn sie direkt angesprochen wurde: Wenn man sie zur Gefangenen machte, würde sie sich auch wie eine verhalten. Sie war stumm, und sie hätte ebensogut auch taub sein können. Das Schiff schlingerte. Wellen schäumten, Möwen schrien, und hinter ihr versank das Festland wie ein Stein.
    Es war ungefähr Mitte Januar, sie wusste das Datum nicht genau, aber was spielte es auch für eine Rolle? Sie wusste nur eines: Ihr eigener Wille zählte nicht, sie war gefangen, ihr Körper ebenso wie ihre Seele, gleich einem Tier im Käfig. Der Mann mit dem Abzeichen hatte sie durchsucht und das Geld – und den Fahrschein, den jetzt nutzlosen Fahrschein – ihrem Stiefvater übergeben, und der verbot ihr, bis zum Auslaufen der Evangeline das Haus zu verlassen, und ging mit dem Sheriff

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