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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Organ, damit fing alles an – das wusste sie, das wussten alle, und im Dunkeln, wenn das Licht gelöscht war, flüsterten die Mädchen es sich einander zu, eine unanständige Geschichte nach der anderen –, aber ohne das Sakrament der Ehe konnte nichts passieren, keine Kinder jedenfalls ... Andererseits: Sie selbst war eine Waise gewesen, und wie war es dazu eigentlich gekommen? Waren ihre Eltern gestorben? Oder war ihre Mutter, ihre leibliche Mutter, jemand wie Ida gewesen, eine junge Frau, die zufällig ein Kind bekommen hatte in einer Zeit wie dieser, da alles in Aufruhr geraten war und ein dunkler Schatten sich über ihre Welt gelegt hatte?
    »Aber du kommst doch wieder zurück«, sagte sie und atmete so heftig, als wäre sie bergauf gerannt. »Ich meine, wenn das Baby ... und wenn der Vater ...«
    Aber Ida schüttelte den Kopf. So leise, dass Edith sich anstrengen musste, um es zu verstehen, flüsterte sie: »Der Vater will mich nicht. Er will das Kind nicht.«
    Dann bewegte sich die Matratze, und Ida stand mit hängenden Schultern da, und aus ihrem Haarknoten hatten sich ein paar Strähnen gelöst. Dann war sie eingerahmt von der Tür, und dann wurde die Tür geschlossen, und Edith weigerte sich, an die Nächte auf der Insel oder in diesem Haus – hier, in diesem Haus – zu denken, die Nächte, in denen sie Geräusche gehört hatte, ein leises wässriges Seufzen und Saugen, das von Bewegung in den Tiefen kündete, als würden unter mondbeschienenen Wogen Delphine spielen. Sie dachte an sich selbst, nur an sich selbst. Und als die Tür ganz geschlossen war, nahm sie den Löffel und begann zu essen.
    Sie kam an Deck, als sie in der Bucht waren und der Anker fiel, und fühlte sich, als wäre sie ausgesondert und für ein ungenanntes Verbrechen bestraft worden. Der Himmel war bedeckt, die Insel lag da wie eine dem Meer abgetrotzte braune Festung. Der Wind trieb peitschende Gischt vor sich her, und schon da, schon in der ersten Minute ihrer Strafe, die monate- oder gar jahrelang dauern konnte, brachte er den Gestank der Schafe und das ferne Gebrüll der Robben und See-Elefanten mit. Es hatte sich nichts verändert. Miss Evertons Seminar hatte nie existiert, ebensowenig wie ihre Mutter, San Francisco, die Mietwohnung oder das Haus in Santa Barbara. Dies war alles, was es gab, für immer und ewig. Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang ? O doch, sie weiß davon, sie weiß.
    Am Strand war Jimmie mit seinem lüsternen Blick und dem Maultier, das hinter ihm stand wie eine Statue. Barsche Worte von ihrem Stiefvater, Anordnungen: Nein, sie würde nicht auf dem Schlitten hinauffahren, sondern zu Fuß gehen – und dabei eine Traglast nehmen. Und dann das Haus, von dem die Farbe fast ganz verschwunden war, und sein Geruch nach kaltem Fett und noch kälterer Asche, fünf Uhr nachmittags und beinahe schon dunkel, und ihr Stiefvater, der sie am Arm packte und in Richtung Küche stieß. »Da sind die Vorräte«, sagte er, »und da ist der Herd.«

JIMMIE
    Sie blieb hinter der Tür stehen und lehnte sich an die Wand. Die Kälte steckte in ihren Füßen, in ihren Knochen. Sie hörte ihren Stiefvater wutentbrannt im Haus herumstampfen und den Einarmigen und seine Frau für den Zustand verfluchen, in dem es sich befand – alles in Unordnung, jeder Schritt und jeder Winkel ein neuer Anlass für Empörung, ein neuer Affront, eine bittere Enttäuschung, die ihn aufs neue toben ließ. Er schrie Jimmie und Adolph an. Gossensprache. Verdammt und Herrgott. Scheiß auf dies und scheiß auf das. Sie trieben das Maultier die Straße hinauf und hinunter, die der Regen inzwischen so ausgewaschen hatte, dass sie bloß noch ein besserer Abflussgraben war, und stießen in regelmäßigen Abständen krachend die Küchentür auf, um Kisten, Säcke, Konservendosen und Flaschen abzuladen. Das Haus rumpelte und dröhnte. Die Dachrinnen klapperten im Wind.
    Lange stand sie da, in Verzweiflung versunken. Es roch wie auf einer Müllkippe – es war eine Müllkippe, der Abfall türmte sich bis zu den Fenstern, und in der Spülwanne stand alles mögliche schmutzige, angeschlagene Geschirr in kaltem, stinkendem Wasser, auf dem Fett und zwei tote Mäuse schwammen, die ihre nackten Pfoten ins Leere reckten. Es war widerwärtig. Erniedrigend. Sie wollte sich setzen, sie wollte auf die Toilette gehen, aber ihr Körper war wie gelähmt, und ihr Geist arbeitete nicht mehr, Vergangenes kollidierte mit Gegenwärtigem, bis sie kaum noch wusste, wo sie

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