Sancha ... : Das Tor der Myrrhe : Historischer Roman (German Edition)
Pagen und Knappen liefen Damian und Olivier auf den Ehrenhof hinaus, um frische Luft zu schnappen. Von dort schlenderten sie unauffällig zu den Stallungen hinüber, wo eine Handvoll Pferdeknechte beim Feuer saß. Scherzworte flogen hin und her.
Die Knappen begutachteten fachmännisch die große Ölpresse und stellten sich dann leise plaudernd an den Brunnen. Als die Pferdeknechte in die Küche eilten, wo ein gedeckter Tisch auf die Bediensteten wartete, schlichen sie sich davon.
„Wäre es nicht klüger gewesen, wir hätten am Nachmittag Feuerstein, Zunder und eine Kerze irgendwo versteckt?“, flüsterte Damian, obwohl niemand mehr sie hören konnte.
„Die Kapelle hat ein Fenster und der Mond eine fette Sichel, das muss reichen!“
Im Schutz der Mauer, die sich um das Burggelände zog, eilten sie zur Kapelle hinüber. Doch wie groß war der Schreck, als sie feststellten, dass die Brennnesseln inzwischen niedergetrampelt waren, der Knöterich heruntergerissen und die Tür einen Spalt offenstand.
„Und was machen wir jetzt?“, jammerte Damian.
„Still! Vielleicht ist noch einer drin ...“, Olivier hielt sein Ohr an den Türspalt und lauschte. „Nichts zu hören!“ Die ledernen Angeln knarzten, als er die Tür aufschob. Erneut lauschten sie, warteten.
Dann schlüpften sie hinein.
Im Inneren herrschte blindes Dunkel. Es roch modrig - nach Weihrauch, Schimmel, Hühnermist und Mäusedreck in einem. Sie tasteten sich an der Mauerseite vorwärts.
Es raschelte.
„Bloß eine fette Ratte“, flüsterte Olivier. Doch er atmete schnell. „Da vorne, beim Altar, siehst du, da fällt genügend Licht herein.“
„Und dort muss der Engel ...“
„Beim bärtigen … , das hast du mir schon dreimal erklärt!“
Schritt für Schritt arbeiteten sie sich bis zu der Stelle vorwärts, wo durch das vergitterte Fenster Licht einfiel. Sie traten näher - und obwohl sie auf den Engel vorbereitet waren, erschraken sie, als plötzlich ein kaltes weißes Gesicht auf sie herabsah. Das steinerne Haar wallte bis über die Schultern. Die Augen blickten streng. Der Mund war halb geöffnet. Übermannshoch, ähnelte der Engel Nemesis, jener selbst von Zeus gefürchteten Rachegöttin, die den Hochmut der Menschen bestraft und prahlerische Worte verabscheut. Dennoch tanzte er mit geradezu himmlischer Leichtigkeit auf der Halbkugel, auf der er stand.
Damian tastete sie ab. „Ein Fuß im Meer, der andere auf dem Land“, flüsterte er. „Es stimmt ...“
„Der Engel ist ein Wunder“, meinte Olivier mit heiserer Stimme. Neugierig betastete er das waagrecht zur Seite stehende, dick gewickelte Geschlinge des steinernen Tuchgürtels, der das knapp wadenlange, feingefältelte Gewand zusammenhielt. „Komisch, findest du nicht?“
„Ganz und gar nicht“, widersprach ihm Damian, „dieser Knoten ist das Zeichen für einen Eingeweihten."
„Und woher weißt du das, Klugscheißer?“
„Damian boxte Olivier in die Seite. „Dummkopf! Von Bruder Bernard. Erinnerst du dich nicht? In der Kapelle von Saint-Polycarpe befand sich eine Heiligenfigur mit einem ganz ähnlichen ..."
"Aber dieser Engel hier hat ja nicht einmal Flügel!“
„Hat er nicht?“ Verblüfft warf Damian einen Blick auf die Rückseite. „Stimmt … oh, mein Gott!“ Damian schrie auf. Er packte den Freund beim Wams und deutete nach oben.
Der rechte Arm des Engels, der sich außerhalb des Mondlichts befand und leicht angewinkelt in die Höhe ragte, war beschädigt. Das Handgelenk fehlte – und mit ihm das Buch! Am liebsten hätte Damian seiner Wut freien Lauf gelassen.
„Immer mit der Ruhe, Kleiner, vielleicht ist die Hand nur abgebrochen.“ Olivier tastete den Boden ab und schwenkte kurz darauf wie eine Trophäe den gekrümmten kleinen Finger des Engels.
In der wilden Hoffnung noch weitere Bruchstücke zu finden, schoben die Freunde mit Händen und Füßen allen Dreck beiseite, der sich dort im Laufe der Jahrzehnte angesammelt hatte, doch vergebens.
„Lass mich nachdenken“, sagte Olivier. „Bischof Fulco macht sich nicht selbst die Hände schmutzig. Also hat er einen seiner Kelchbuben geschickt. Vermutlich im Gefolge des hiesigen Bischofs.“
"Du meinst, der Kerl versteckt sich hier irgendwo und spaziert am Ende des Abends mit dem Steinernen Buch in der Hand an der Torwache vorbei?“
„Nun, anders als durch die Barbakane kommt er doch hier nicht raus, oder? Vielleicht hat er sich draußen im Mondschein die Inschrift eingeprägt und den Stein dann
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