Sanctum
Abschiedsworte vermocht hätten. Dann ließ er sie los und verschwand um die Hausecke.
Gregoria blieb allein zurück. Sie richtete die graubraunen Augen zum Himmel und bat um Vergebung für ihre Lügen, die nur einem guten Zweck dienten.
Gregoria hatte nicht vor, ihre Reise zu verschieben; sobald das Geld ihrer Verwandten aus dem Alsace angekommen war, würde sie aufbrechen. Jede Minute zählte, denn es ging um Florences Leben. Sie vertraute auf den Herrn. Darauf, dass während der Reise in die Ewige Stadt alles gut verlaufen und er sie in Rom vor dem jungen Comte bewahren würde. Sie diente einem höheren Ziel und durfte sich durch ihre Gefühle nicht davon abbringen lassen. Es schmerzte sie, Jean angelogen zu haben, doch sonst wäre er niemals von ihrer Seite gewichen und hätte am Ende darauf bestanden, dass sie mit nach Paris kam.
Gregoria berührte gedankenverloren die Phiole, die sie in einer Tasche unter ihrem Kleid trug, kehrte ins Haus zurück und setzte sich zu den Kindern an den Tisch. Sie wurden von ihrer Mutter in Lesen und Schreiben unterrichtet, Gregoria half ihr dabei, solange sie bei ihnen wohnte. Die Maizieres waren gute Menschen und standen über dem Glaubenszwist. Sie halfen dem Nächsten, auch wenn der Nächste eine katholische Äbtissin war.
Als sie abends allein im Zimmer saß, schrieb sie einige Briefe, vorab verfasste Antworten auf die Nachrichten von Jean. Sie würde die Maizieres bitten, die Briefe an die Adresse zu senden, die Jean in seinem Schreiben angab. Somit würde er den Eindruck bekommen, dass sie sich immer noch im Gevaudan aufhielt.
Es fiel ihr schwer, den geliebten Mann nun auch auf diese Art zu täuschen, und jeder Federstrich brannte sich schmerzhaft in ihr Gewissen ein. Aber es gab keinen anderen Weg.
15. Juli 1767, Frankreich, Marseille
Über Marseille hing eine Dunstglocke, unter der sich die ekelhaftesten Gerüche sammelten und verdichteten – jedenfalls erschien es Gregoria so. Sie hatte im Hafenviertel in einer bescheidenen Absteige Quartier bezogen und wartete auf die Ankunft ihres Schiffes. Von ihrem Fenster in der zweiten Etage aus konnte sie zwischen Hauswänden und an den vielen Schornsteinen der kleineren Häuser vorbei das Meer sehen.
Es herrschte Flaute. Viele Segler verschoben ihre Abfahrt um einen weiteren Tag, andere, die es wenigstens bis in die Nähe der Stadt geschafft hatten, ehe die Winde nachließen, wurden von Ruderbooten in den Hafen geschleppt. Der Anblick erinnerte Gregoria an Ameisen, die einen fetten Wurm hinter sich her in den Bau schleppten.
Die Reise war beschwerlicher, als Gregoria angenommen hatte, und vor allem dauerte sie viel länger. Sie hatte sich mit der gebotenen Eile auf den Weg gemacht, war gewandert und gelegentlich ein Stück bei Händlern auf deren Wagen mitgefahren. Trotzdem kam sie nur langsam voran. Also musste Gregoria den Plan ändern. Sie konnte nicht schwimmen, hatte Angst vor dem Meer und daher eigentlich auf eine Überfahrt mit dem Schiff verzichten wollen. Sie vertraute Gott, aber nicht allen Kähnen, die in den Häfen dümpelten, und schon gar nicht dem Wetter. Wie schnell wurde aus einer Flaute ein ausgewachsener Sturm! Nach ihren neuen Berechnungen würde sie Rom auf dem Landweg aber erst in vier Monaten erreichen, und das war eindeutig zu langsam. Florence hatte diese Zeit nicht.
Gregoria schloss das Fenster und ging durch ihr so genanntes Zimmer – jede Klosterzelle war größer und sauberer – zur Tür. Sie trug ein dunkles Kleid und ein weißes Kopftuch, auf ihren Habit wollte sie vorerst verzichten. Es war besser, vorsichtig zu sein. Zwar beschränkte sie ihre Ausflüge auf eine halbe Stunde am Tag, um sich etwas zu essen zu kaufen und nach den Schiffsmeldungen zu schauen, doch das könnte schon ausreichen, um Aufmerksamkeit bei denjenigen zu erregen, die ihr Böses wollten.
Sie stieg die enge, steile Treppe hinab und verließ die Herberge. Sie streifte durch den Hafen und kaufte sich ein großes Brot, geräucherte Fische und ein paar Oliven.
Als sie am Kai entlangging, fiel ihr ein schwarz gekleideter, junger Abbé auf, der neben einem Obststand verharrte und anscheinend darauf wartete, dass der Händler nicht hinsah; seine rechte Hand hatte sich bereits um einen Apfel gelegt, und die Beule in seiner Umhängetasche ließ Gregoria vermuten, dass er diesen Trick bereits mehrmals angewandt hatte. Sie hatte sein Gesicht schon einmal gesehen, irgendwo im Gevaudan. Es konnte Abbé Acot sein, der junge
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